An seinem Ende bemerkte sie zwei Türen neben einander. Die eine war ganz weiß und die andere ganz schwarz. Die weiße führte in ein Zimmer, dessen Einrichtung lediglich aus einem Tisch und einem Polsterstuhl bestand. So wie die Tür war das ganze Zimmer weiß gestrichen, sogar die Möbel und der Fußboden. Die Farbe war so grell, dass das Auge von ihr geblendet wurde. Erschreckt ging sie wieder hinaus und öffnete die schwarze Tür. Der Raum, den sie dort vorfand, glich dem eben gesehenen aufs Haar, mit dem einzigen Unterschied, dass dort alles schwarz war. Mutig betrat die junge Frau das düstere Gemach, denn sie hatte an seiner Rückseite einen weiteren Ausgang entdeckt. Er führte zu einer groben Steintreppe, die völlig schmucklos war und zu all dem Prunk und Schmuck des übrigen Palastes nicht zu passen schien. Zögernd und mit größter Vorsicht stieg sie in die Tiefe.
Zu ihrem Schrecken fand sie sich plötzlich in einem unterirdischen Verlies wieder. Licht fiel durch ein paar Gitterstäbe hoch unter der Decke. Dieses feuchte, düstere Gelass war rund. In die runde Wand waren Zellen eingelassen und mit massiven Gitterstäben verschlossen. In der Mitte des schrecklichen Kellers hatte man Instrumente zum Foltern aufgebaut. Akandra schauderte. Sie hatte die Schattenseite von all dem Glanz entdeckt. Welche Teufel mochten hier früher gehaust haben. Die armen Gefangenen mussten miterleben, wie ihre Leidensgefährten gefoltert wurden. Welche Schreie mochten durch dieses Gewölbe gehallt sein! Doch vollends entsetzt war sie, als sie zur Streckbank trat und dort ein Gerippe eingespannt fand. Man hatte gefoltert und den Delinquenten einfach vergessen. Welche Bestien waren zu so etwas fähig? Nun sah sie auch in den Zellen Gerippe liegen, die verhungert oder verdurstet waren. Dort umklammerten die Knochen der Hände die Gitterstäbe, da lag der Tote auf dem Boden, als sei er friedlich eingeschlafen.
Wer waren diese Gefangenen, die man hier ihrem grausamen Schicksal überlassen hatte? Welcher Vergehen hatten sie sich wohl schuldig gemacht? Oder gab es gar keine Schuld? Dienten der schwarze und der weiße Raum dem Verhör, oder wurde dort das Urteil gesprochen? Die einsame Besucherin dieser Schreckenskammer bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Was würde geschehen, wenn die Herren des Schlosses zurückkämen und sie hier fanden? Sie stieg hastig die Treppe empor und wäre beinahe auf den feuchten Stufen ausgeglitten. Dann eilte sie durch den schwarzen Raum zurück zu den Schlafzimmern und zurück zu Marc. Sie wollte nur noch heraus aus diesem goldenen Käfig, hinter dessen Fassade sich so viel Schrecken verbarg. Aber wo war der Gefährte, wo war ihr Nachtlager gewesen? Sie hatte sich in dem Labyrinth des Schlosses hoffnungslos verirrt. Sie rief den Namen des Freundes, erhielt aber keine Antwort. Sie machte Zeichen an der Wand, falls sie im Kreis lief. Schließlich setzte sie sich entmutigt und verzweifelt auf die unteren Stufen einer Treppe und barg ihr Gesicht in den Händen. Die stolze und mutige Akandra war den Tränen nahe. Da hörte sie ihren Namen.
Jemand sagte: „Akandra, was machst du hier?"
Sie schreckte hoch. Hatte man sie entdeckt? Waren die Folterer zurückgekommen? Was würde nun mit ihr geschehen?
Aber es war nur Marc, der vor ihr stand und erleichtert aufatmete. Er hatte ihr Schlafzimmer leer gefunden und sich voller Sorgen auf die Suche nach ihr gemacht. Vorsichtshalber hatte er sein und ihr Gepäck mitgenommen. Auch er hatte sich in dem seltsamen Palast verirrt. Nun war er froh, die Freundin gefunden zu haben. Diese sprang auf und umarmte ihn.
„Wir müssen hier weg“, sagte sie rasch. „Es ist gefährlich hier!"
„Das habe ich doch schon gestern Abend gesagt."
„Es geht jetzt nicht um Rechthaberei, sondern um die Frage: Wie kommen wir hier heraus?"
Sie liefen treppauf und treppab, sie hielten sich links, und sie hielten sich rechts, sie sahen Schmuck und Kunstwerke, ihre Blicke fielen achtlos auf Gold und Edelsteine, sie fanden Kleider und Musikinstrumente, ihre Füße hinterließen Spuren im Staub von Jahrhunderten, aber sie entdeckten keinen Ausgang. Irgendwann öffneten sie ein eisernes Tor und helles Tageslicht umflutete sie. Aufatmend traten sie hinaus. Die weite Ebene von Eliu lag vor ihnen.
„Wir haben es geschafft, Marc“, sagte Akandra.
Aber der schüttelte nur den Kopf.
„Du irrst“, antwortete er, „wir sind genauso weit wie zuvor. Wir befinden uns auf dem Dach des Palastes."
Die weiße Frau
Es war ein heller Tag, denn obgleich spät im Jahr war der Himmel wolkenlos. Weit dehnte sich Eliu vor ihnen aus. Nur die Südhöhen begrenzten den Blick. Marc deutete nach Osten, wo wie ein schwarzes Band der Kohlewald lag.
„Das ist unser Weg“, sagte er, „wenn wir den Wald erreichen, habe wir unsere Verfolger abgeschüttelt."
Vom Westen kommend sahen sie eine schmale Straße, die am Tor des Palastes endete. Sie durchquerte das Ödland und folgte dann dem Fluss Dollard.
„Was ist denn das?" fragte Akandra und deutete auf schwarze Punkte, die die Straße entlang krochen.
„Das sind Reiter“, rief Marc erschrocken.
Sie beschatteten mit den Händen die Augen und sahen sich genauer um. Zu ihrem Entsetzen bemerkten sie die gleichen Punkte im Norden und im Süden. Die Punkte verteilten sich. Die Reiter schwärmten aus und kreisten den Palast ein. Bald war auch Fußvolk zu erkennen. Waffen blitzten in der Sonne.
„Wir sind gefangen“, stellte Akandra fest. „Auch, wenn dieser Aufmarsch nicht uns gilt, so gibt es doch kein Entkommen mehr."
„Wir können uns im Palast verstecken“, meinte Marc. „Er ist so weitläufig, dass sie uns so schnell nicht finden. Vielleicht ziehen sie bald wieder ab!"
Die junge Frau dachte daran, was sie im Keller dieses Gemäuers entdeckt hatte, und Schauer überfiel sie aufs Neue.
„Wir müssen hier weg“, sagte sie. „Wenn wir bleiben, wird es fürchterlich!"
„In diesem flachen Land kann man uns meilenweit sehen, und zu Pferd haben uns die Reiter rasch eingeholt. Wenn wenigstens noch hohes Gras stünde. Aber diese Einöde bietet keine Deckung. Wir müssen hierbleiben und uns hier ein Versteck suchen."
„Wenn ich sage, wir machen uns auf den Weg, so habe ich meine guten Gründe."
Während sie noch stritten, wurden sie plötzlich zu Boden gerissen. Starke Arme hielten sie fest. Die Erits wehrten sich verbissen, schlugen um sich, traten und versuchten, den Gegner zu beißen. Doch sie kamen nicht gegen ihn an. Eine große, kräftige Gestalt war über sie hergefallen. Vorsichtig tastete Akandra nach ihrem Messer. Sie hatte das Heft bereits umfasst und wollte gerade zustoßen, da erhielt sie einen mächtigen Hieb, der sie bewusstlos zurücksinken ließ. Marc, der nach dem Hammer an seinem Gürtel gegriffen hatte, erging es nicht besser.
Als sie wieder zu sich kamen, hatte man sie vom Dach herunter gezogen. Ächzend richtete sich Marc auf und schaute sich vorsichtig um. Was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht, deshalb ließ er sich erschrocken wieder zurückfallen. Vor ihm ragte drohend ein weiß gekleideter Mensch auf. Er beugte sich zu ihm herunter, und der Erit riss seinen Arm schützend über den Kopf, als erwarte er einen neuen Schlag. Doch stattdessen fuhr ihm eine Hand zart über das Haar.
„Ich hoffe, es tut nicht allzu weh“, sagt eine weiche Stimme. „Es ging nicht anderes. Ihr habt euch zu sehr gewehrt, und ich konnte dort oben auf dem Dach keinen Ringkampf mit euch ausführen. Das wäre sofort aufgefallen. Ich hoffe nur, dass man uns noch nicht bemerkt hat."
Auch Akandra war inzwischen wieder zu sich gekommen und hatte die letzten Worte gehört.
„Das einzige, was zu bemerken war, ist die Brutalität, mit der Ihr uns niedergeschlagen habt. Was haben wir Euch getan?"
„Nun, immerhin wolltest du mich mit deinem Messer abstechen“, sagte die Stimme mit leichtem Spott. „Du bist überhaupt schnell mit dem Messer zur Hand, Akandra."
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