„Woher kennt Ihr meinen Namen?"
„Oh, ich weiß viel über euch. Ich weiß auch, dass es besser für euch ist, nicht entdeckt zu werden. Habt ihr törichten Erits denn nicht gemerkt, dass von allen Seiten Truppen auf den Palast zu marschieren. Ihr standet im Sonnenschein auf dem Dach und wart prächtig meilenweit zu sehen. Ich hatte keine Zeit für lange Diskussionen, deshalb riss ich euch zu Boden. Aber ihr habt wie die Wilden gekämpft."
„Wer seid Ihr?" fragte Akandra.
„Das erkläre ich euch später. Zuerst einmal müssen wir hier weg."
„Warum?"
„ ER kommt zurück."
„Wer ist ER ?"
„Wisst ihr denn nicht, wo ihr euch aufhaltet? Dies ist Roscio, der Sommerpalast Ormors. Und du, Marc, hast im Bett des Zauberkönigs geschlafen."
Den Erits blieb das Herz stehen. Sie wollten hundert Fragen auf einmal stellen, aber die weiße Gestalt schnitt ihnen das Wort ab.
„Später, später“, rief sie. „Zuerst müssen wir uns retten!"
„Wie soll das geschehen“, fragte Marc. „Wir sitzen hier in der Falle. Sobald wir den Palast verlassen, werden wir gesehen, und die Hetzjagd beginnt."
„Ich habe eine Idee, wie wir ungesehen entkommen könnten. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren."
Die Gestalt half ihnen auf die Beine und lief dann voraus die Treppe hinunter. Sie schien sich auszukennen, denn sie führte die beiden zielstrebig durch das Gewirr der Gänge. Ihr Ziel war der runde, blaue Raum, den Akandra am Morgen erkundet, und aus dem sie den kleinen Dolch mitgenommen hatte. Als sie dort angelangt waren, erkannten die Erits endlich, mit wem sie es zu tun hatten. Ihr Führer war eine Frau. Sie trug einen weißen Mantel und darunter grüne und erdfarbene Wäsche aus Wolle. Ihr Haar war lang und dunkel. Als sie den Mantel zurückschlug, erkannten sie ein großes Messer an ihrer Seite und über der Schulter einen Köcher und einen langen Bogen. Die Frau begann systematisch den Raum abzusuchen. Schon zweimal hatte sie alles abgetastet und genau in Augenschein genommen, aber nichts gefunden. Sie schimpfte still vor sich hin.
„Sie müssen da sein. Wenn ich sie nicht bald finde, muss ich mir etwas anderes überlegen. Viel Zeit bleibt nicht mehr!"
Inzwischen klopfte sie sogar die Wände ab. Marc fragte höflich, ob er helfen könne, und was denn gesucht werde. Aber er bekam keine Antwort, und als er noch einmal nachfragte, wurde er barsch abgewiesen. In diesem leeren Raum konnte nichts verborgen sein. Warum gab sie nicht auf? Die beiden Erits kamen sich überflüssig vor und langweilten sich. Jung und unbefangen wie sie waren, begannen sie ein Hüpfspiel auf den schwarzweißen Marmorplatten des Fußbodens, das sie als Kinder schon gespielt hatten. Da geschah es plötzlich. Ein Knirschen ging durch den Raum, die Frau und die Erits erstarrten vor Schreck, und eine der Wände wich zurück. Eine Kammer mit Regalen wurde sichtbar, auf denen wunderliche Dinge standen: seltsame kristallene Kugeln, Zylinder, die in allen Regenbogenfarben glänzten, und Stöcke aus Silber und Gold. Die Frau eilte hinein und kam mit drei unscheinbaren, grauen Tüchern zurück.
„Ich habe, was wir brauchen“, sagte sie befriedigt. „Wenn ihr euer kindliches Spiel nicht gespielt hättet, so hätte ich diese Schatzkammer niemals gefunden. Der Öffnungsmechanismus war im Boden. Die Bodenplatten müssen in einer ganz bestimmten Reihenfolge betreten werden. Nun kommt, wir haben schon viel Zeit verloren und müssen hier weg."
Sie rannten gemeinsam durch endlose Flure und Zimmer, bis sie endlich die zerbrochene Eingangstür erreichten und ins Tageslicht traten. Dort entfaltete die Frau die mitgebrachten Tücher und warf sie ihren Begleitern über den Kopf. Auch sie selbst hüllte sich ein. Die Tücher waren aus dünner Gaze. Den Erits wurde der Sinn der Maskerade nicht klar.
„Folgt mir!" sagte die Frau. „Wundert euch über nichts, ganz gleich was geschieht. Habt keine Angst, ihr seid jetzt unsichtbar. Das sind Verschwindetücher. Später will ich euch alles erklären, aber jetzt ist dazu keine Zeit. Redet von jetzt an nicht mehr, auch wenn dies Erits besonders schwerfällt. Wenn ihr eure Zunge nicht in Zaum haltet, werden wir entdeckt und sind verloren."
Sie nahm die Erits an der Hand und trat ohne zu zögern durch das Tor des Parks hinaus in die weite Ebene. Als sie vor der Einfriedung standen, prallten ihre beiden Begleiter zurück. Sie waren umzingelt. Die schwarzen Punkte, die sie vom Dach aus gesehen hatten, waren nämlich inzwischen angekommen. Was vom Dach noch wie ein Spiel ausgesehen hatte, war eine reale Bedrohung geworden. Vor sich sahen sie Orokòr, schwarzgesichtige, sonnenverbrannte Männer aus dem Süden und schmallippige, brutale Gestalten aus dem Norden. Alle trugen grausame Waffen, und man sah ihnen an, dass sie damit umzugehen wussten. Sie waren dabei, rund um die Palastmauer Zelte aufzubauen und Feuer zu entzünden. Einige von ihnen bereiteten Essen und zerteilten erlegte Beute. Als Akandra sah, was da gebrutzelt werden sollte, würgte es sie. Fahnen waren aufgestellt, um die einzelne Haufen mit ihren Unterführern zu kennzeichnen. Den Pferden hatte man die Vorderbeine zusammengebunden, aber die Sättel nicht abgenommen. Es waren struppige Tiere, ungepflegt und bösartig. Man sah, dass sie nur mit dem Notwendigsten versorgt wurden und darauf angewiesen waren, sich ihr Futter selbst zu suchen. An den Sätteln hingen Fangleinen, manche noch blutbeschmiert. Um welchen Hals hatten sie sich noch vor kurzem zugezogen, welche Gelenke waren mit ihnen so fest gefesselt gewesen, bis das Fleisch aufgesprungen war und geblutet hatte? Hundemeuten waren an langen Leinen angepflockt, kläfften und bissen sich gegenseitig. Die Jäger, die für ihre Betreuung zuständig waren, bauten sich Behausungen in ihrer Nähe. An einer Stelle aber wichen die Zelte ehrfurchtsvoll zurück. Dort auf einem freien Platz stand ein bequemer, offener Reisewagen. In ihm saß eine kleine, glatzköpfige Gestalt. Es war klar, dass der Gnom auf Ormor wartete, um mit ihm zusammen das Schloss zu beziehen.
Lange konnten die drei Unsichtbaren das Lager nicht beobachten, denn Livrierte eilten auf das Tor zu und hätten sie umgerannt, wenn sie nicht ausgewichen wären. Es waren Heerscharen von Dienern, die den Palast auf den bevorstehenden hohen Besuch vorbereiten mussten. Der Hausherr kam nach vielen Jahren zurück und wollte sein Domizil so vorfinden, wie er es verlassen hatte. Da gab es viel zu tun!
Die weiße Frau nahm ihre Begleiter an der Hand und führte sie mitten durch das geschäftige Treiben des Lagers. Diese konnten noch immer nicht begreifen, dass man sie nicht sah, und folgten ängstlich. Beinahe hätte Marc aufgeschrien, als ihm ein riesiger Orokòr aus seinen roten Augen direkt ins Gesicht sah. Gleich würde er auf ihn zukommen und ihm das schwarze, gebogene Messer ins Herz stoßen. Aber nichts geschah. Akandra hingegen stolperte über Zeltschnüre und wäre gefallen, wenn ihre Führerin sie nicht aufgefangen hätte. Sie rochen den Gestank, der von den Kochkesseln aufstieg, und mussten ihren Würgereiz bekämpfen. Die Zelte waren schwarz und geflickt, und das Lager erfüllt vom heißeren Schreien der Männer. Die Frau umging den Wagen mit dem Glatzkopf weiträumig, deshalb mussten sie an den Hunden vorbei. Diese witterten die Eindringlinge und ihr Kläffen ging in ein wütendes Bellen und Knurren über. Die Südländer wurden aufmerksam. Fragen und Befehle wurden gebrüllt. Schon dachten die Erits, man hätte sie entdeckt, da rief ein Jäger: „Schon gut! Es ist niemand hier! Das sind nur die stinkenden Orokòr, über die sich die Hunde aufregen."
Ein kleiner, gedrungener Orokòr war gerade dabei, das Feuer unter seinem Kochkessel durch Blasen anzufachen. Er hatte sich gebückt und seinen schmutzigen Hintern in die Höhe gereckt. Akandra konnte nicht an sich halten und trat ihn mit aller Kraft, so dass er kopfüber in das Feuer fiel und sich die heiße Brühe über ihn ergoss. Er schrie auf wie ein Schwein beim Metzger. Die weiße Frau packte Akandra am Arm und zog sie mit einem wütenden Blick fort. Tumult breitete sich aus, der sich in wildem Gelächter auflöste. Endlich hatten sie das Lager durchquert. Vor ihnen lag die leere Steppe. Aber es gab kein Verschnaufen, denn nun begann die Führerin zu rennen, und die Erits mussten auf ihren kurzen Beinen folgen, ob sie wollten oder nicht.
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