„Und all das Grauen, das die fremden Eroberer in der Zwischenzeit anrichten?"
„Damit muss man leben. Der Schwache kann sich kein Mitleid leisten!"
„Er ist einfach nur feige“, sagte Marga leise wie zu sich selbst.
Der General erbleichte und verlor die Nerven: „Ich muss mich nicht beschimpfen lassen“, tobte er. „Mein Leben lang habe ich meine Pflichten treu erfüllt. Mein Herr hatte nie Grund, über mich zu klagen. Stets lag mir das allgemeine Wohl am Herzen, ich stellte es höher als mein eigenes. Nun kommen junge Leute, dazu noch Fremde, und beschimpfen mich. Das habe ich nicht verdient. Herr, warum schweigt Ihr dazu. Warum stellt Ihr euch nicht vor Euren Diener? Fürsorge ist die oberste Pflicht eines Herrn, und nun bedarf ich Eurer Fürsorge vor den Angriffen dieser ... dieser ... Flüchtlinge“.
Begütigend legte ihm Werhan noch einmal die Hand auf die Schulter.
„Ihr selbst braucht euer Rattenloch hier nicht zu verlassen. Wir wollen nur ein paar von euren Soldaten, die helfen, das Schlimmste zu verhüten“.
„Wenn ich euch Soldaten mitgebe, wer soll dann hier im Norden die Grenze schützen? Hier ist ein gefährliches, ein bedrohtes Gebiet. Jenseits des Flusses und der Berge sind wilde Lande. Von dort drängen immer wieder Feinde ins Heimland. Ich kann es nicht verantworten, die Grenzen für jedermann zu öffnen“.
„Aber die Feinde sind doch schon längst im Land. Wir müssen sie hier bekämpfen“, rief Horsa verzweifelt.
„Schlimm genug, dass Feinde eingedrungen sind. Wollt Ihr das Übel noch vergrößern, indem Ihr noch mehr Feinde ins Land lasst? Man muss den Schaden begrenzen, indem man zumindest diese nördliche Grenze bewacht! Nein, ich kann Euch keinen einzigen meiner Männer mitgeben“.
Werhan nahm die Hand vom General und sagte zu den anderen: „Er glaubt zumindest im Augenblick selbst, was er sagt. Vor ein paar Tagen war übrigens eine Abordnung der Orokòr hier und hat den Alten gemahnt, still zu halten. Der Schreck über diesen Besuch sitzt ihm noch immer in den Knochen“.
Der General erbleichte bei diesen Worten, drehte sich wortlos um und lief auf den Gang hinaus. Niemand bewegte sich. Nach einigen Augenblicken kehrte er zurück. Er ignorierte noch immer die beiden Menschen und wandte sich nur an den Markgrafen.
„Herr“, sagte er und seine Stimme zitterte, „ich will nicht von Euch scheiden, ohne Euch ausdrücklich meiner Loyalität versichert zu haben. Ich werde mich niemals gegen Euch wenden. Wenn ich jetzt gehe, so bleibt diese Tür offen. Auch alle anderen Tore sind nicht abgeschlossen, und die Wachen habe ich abgezogen. Lebt wohl! Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich Euch gesund wiedersehen werde. Ihr seid einst auf meinen Knien geritten, und ich möchte noch viele glückliche Jahre in Eurem Dienst verbringen“.
Nach diesen Worten trat er langsam und würdig auf Horsa zu und küsste ihn mit bleichen Lippen. Dann verließ er mit gebeugten Schultern die Zelle.
Die Gefangenen sahen sich ratlos an und warteten eine Weile, dann folgten sie ihm vorsichtig. Tatsächlich standen alle Türen offen, und kein Soldat war zu sehen. Als sie aus dem Gebäude traten und zum großen Tor gingen, umfing sie die Nacht. Der Boden war noch feucht vom Regen. Über ihnen wölbte sich ein prächtiger Sternenhimmel. Die Luft war nach dem Gewitter des Tages kühl und rein. Auch der Eingang zum Fort war nicht geschlossen, so dass sie rasch hinausschlüpfen konnten. Sie standen am Fuß der Palisaden.
„Was nun?" fragte Horsa.
„Erst einmal weg von hier“, antwortete Werhan und machte sich auf den Weg.
In die Berge
Sie folgten der Straße, die beim Tor begann. Sie schlängelte sich am Fuß des Bustergebirges entlang und verband die nördlichen Orte des Heimlands. Werhan blieb an einem verwitterten Wegweiser stehen.
„Wir müssen endlich wissen, was los ist“, sagte er. „Vielleicht können uns die Vögel helfen. Die meisten schlafen jetzt zwar, aber ich hoffe, Marga, du kannst wenigstens Kontakt zu einigen Nachtvögeln bekommen“.
Die junge Frau nickte und begann zu flöten und zu trillern. Kurz darauf hörte man aus der Ferne eine Antwort. Ein zweiter Vogel fiel ein und ein dritter. Bald war die Luft unter dem funkelnden Sternenhimmel erfüllt von einer hellen Melodie. Marga pfiff zurück, und es entspann sich ein Pfeifkonzert.
Atemlos und gespannt fragte Horsa: „Was hörst du? Was sagen sie?"
Die Frau ließ sich nicht stören und flötete weiter.
Der Graf wurde immer ungeduldiger. „Verdammt noch 'mal, so sag' doch, was los ist!"
Werhan schaltete sich ein und legte den Finger auf den Mund. „Sei doch still!" flüsterte er.
Als das Zwiegespräch zwischen Marga und den Vögeln beendet war, wandte sie sich an ihren Begleiter: „Du darfst mich nicht unterbrechen, wenn ich mit ihnen rede. Sie sind sehr scheu und leicht beleidigt. Ich muss mich ihnen ganz widmen, wenn sie sich zu einem Gespräch herablassen“.
„Also, was haben sie gesagt?" Horsa ging nicht auf ihre Vorwürfe ein.
„Schwarze Geschöpfe sind überall. Gestern hat es viele Tote gegeben. Auch Tiere sind ermordet worden. Die Straßen werden alle bewacht und sind nicht mehr sicher“.
„Was ist mit den Orten vor uns?"
„Du meinst Lindendorf und Eichelhain?"
„Ja, genau“.
„In diesen Dörfern haben die schwarzen Gestalten die Herrschaft übernommen. Die Leute dürfen bei Nacht die Häuser nicht verlassen. Bei Tag werden sie unter Bewachung zur Arbeit auf die Felder getrieben“.
„Das ist ja schlimmer, als ich gedacht habe“, stöhnte Horsa.
„Ich hatte so etwas in den Gedanken des Generals gelesen“, sagte Werhan. „War aber nicht sicher. Es hätte auch ein Irrtum sein können. Doch nun ist klar, der alte Mann hat einen Waffenstillstand mit den Feinden geschlossen. Diesen fragwürdigen Frieden wollen wir stören. Das musste er verhindern. Zugeben konnte er seinen Verrat aber nicht. In gewisser Weise kann ich ihn verstehen. Was will er denn mit seinen Erit-Soldaten gegen Orokòr ausrichten?"
„Es ist seine Pflicht, seine Leute mir zu unterstellen und mir bei der Befreiung des Heimlandes zu helfen“, sagte Horsa verdrossen.
„Auch du kannst dem Heimland auch nicht helfen. Gegen die Orokòr hat niemand eine Chance“.
„Ich bin der Markgraf dieses Landes. Mein Vater wurde vom König als Herrscher eingesetzt. Dieses Land hat uns Meliodas als Lehen verliehen. Ich trage, nachdem mein Vater nicht zurückgekommen ist, die Verantwortung. Wer, wenn nicht ich, sollte Widerstand leisten?"
„Aber deine eigenen Soldaten sind von dir abgefallen. Du kannst doch nicht allein kämpfen“.
„Wenn es sein muss, werde ich auch dieses tun. Ich werde kämpfen bis zu meinem Tod. Das bin ich meinem Vater schuldig! Er hat sich einst an der Seite berühmter Helden auf den Schlachtfeldern von Whyten für die Befreiung von Centratur tapfer geschlagen. Nicht zuletzt ihm ist es zu verdanken, dass die Tyrannei Darkens beendet werden konnte. Ich bin sein Sohn und werde nicht kapitulieren“.
„Stolz ist gut“, sagte Werhan, „aber der deine führt geradewegs in den Selbstmord. Doch ich befürchte, wir müssen dir dorthin folgen. Was meinst du, Marga?"
„Du hast Recht. Wir gehen mit Horsa“.
Dieser wurde rot vor Freude und wusste nicht, warum er trotz der großen Gefahren, denen sie entgegengingen, so glücklich war.
„So weit so schlecht“, sagte Werhan. „Dann wollen wir uns auf den Weg machen. Wir müssen schleunigst die Straße verlassen, wenn wir nicht in kurzer Zeit gefangen und umgebracht werden wollen. Als nächstes brauchen wir Waffen. Ohne Gegenwehr lasse ich mich nicht abschlachten. Dein Schwert haben dir die Soldaten abgenommen, und der General hat vergessen, es dir zurückzugeben. Du bist also auch waffenlos“.
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