„Wenn doch jetzt Aramar hier wäre“, dachte er sich und sah den alten Mann in seinem langen grauen Gewand ganz deutlich vor sich. „Aramar würde dem Spuk hier rasch ein Ende bereiten“.
Die Kugel glänzte in der Sonne. Plötzlich begann sie zu funkeln und sandte grelle Blitze aus. War es die Reflexion der Sonne, oder strahlte sie von innen heraus?
„Wenn doch jemand dieses Licht sehen würde und uns zu Hilfe käme! Am besten wäre es jemand wie Aramar!" dachte er sich. „Aber jede Hoffnung ist wohl in dieser Einsamkeit vergeblich“.
Dann steckte er die Kugel resigniert wieder in seine Hosentasche.
Nach einiger Zeit sah Werhan aus der luftigen Höhe eine Gestalt in einem grauen Mantel den schmalen Weg aus Osten herankommen. Sie war groß. Es schien ein Mensch zu sein. Er ging gebeugt und stützte sich auf einen großen Stock. So wie es aussah, war der Mann alt und lief geradewegs in seinen Untergang. Die Gefährten richteten sie sich mit letzter Kraft auf und riefen, so laut sie konnten, um den Fremden zu warnen. Aus ihren rauen Kehlen kam zwar nicht viel mehr als ein Krächzen, aber der Alte schien sie gehört zu haben. Doch statt umzukehren und davonzulaufen, beschleunigte er seine Schritte. Die Taks hielten mit der Erstürmung der Felszinne inne. Aufheulend stürmten sie dem Neuankömmling mit vorgestreckten Zangen entgegen.
Doch der Mann wich nicht zurück. Seine Gestalt war nun auch nicht mehr gebückt, sondern hoch aufgerichtet, und sein weißes Haar blitzte in der Nachmittagssonne. Er benutzte seinen schweren Stock als Waffe und hieb ihn dem ersten Angreifer quer übers Gesicht. Nun war er von der Meute umzingelt. Doch er behauptete sich gegen die Übermacht. Sein Stock kreiste um ihn, er hieb und stieß und schlug mit Macht, und wo er traf, hinterließ er eine blutige Spur. Nach jedem Schlag des Stabes stand ein Gegner weniger. Das Ganze ging so schnell, dass man den Bewegungen kaum mit den Augen folgen konnte.
Damit hatten die Taks nicht gerechnet. Sie waren es gewohnt, dass man vor ihnen floh. Schon allein die drohende Geste, mit der sie ihre Klauen schärften, trug dazu bei, dass jeder vor diesen teuflischen Wesen davonlief. Mit den Flüchtenden hatten sie dann leichtes Spiel. Sie stellten den Opfern nach, schlugen ihre Krallen in die Rücken der zitternden Leiber und zerfleischten sie. Im Grunde waren die Taks feige, und als sie nun auf jemanden trafen, der sich ihnen zum Kampf stellte und ihren natürlichen Waffen eine ebenso wirksame Waffe entgegen zu setzen hatte, da ergriffen sie die Flucht. Der Mann eilte ihnen ein Stück nach, erwischte noch den einen oder anderen, der zu langsam lief, dann war der Spuk vorbei.
Auf seinen Stab gestützt stand der Retter am Fuß des Felsens und rief hinauf: „Ihr könnt herunterkommen. Es droht keine Gefahr mehr“.
Die völlig entkräfteten jungen Leute brauchten eine ganze Weile, bis sie wieder auf dem Weg standen und ihrem Retter danken konnten. Sie hatten vermutet und gehofft, es wäre Aramar. Aber diesen alten Mann kannten sie nicht. Der öffnete rasch sein Bündel und gab ihnen zu trinken und ein wenig später zu essen. Es dämmerte bereits, als die Lebensgeister der Drei endlich wieder erwacht waren, und sie die Kraft fanden, Fragen zu stellen.
„Das war wirklich ein glücklicher Zufall, der Euch im rechten Moment hierher geführt hat“, sagte Horsa.
„Es gibt keinen Zufall“, antwortete der Retter. „Ich sollte kommen, und ich bin gekommen“.
„Wer hat Euch geschickt?"
„Ich wurde nicht geschickt. Ich wusste, dass ich kommen soll. Der Sinn, weshalb man etwas tut oder lässt, stellt sich in der Regel erst später heraus“.
„Was soll auch die immer wieder gestellte, törichte Frage nach dem Sinn“, sagte Marga abschätzig. „Es war ein für uns überaus glücklicher Zufall“.
„Es gibt keinen Zufall in der Welt“, entgegnete ihr der Alte ernst. „Selbst, wenn ein Schmetterling irgendwo auf einer Wiese stirbt, so ist es geplant und hat seinen Sinn für das Ganze. Auch wenn wir diesen Sinn nicht erkennen können. Es gibt Leute, die glauben, dass es nur das wirklich gibt, was sie sich erklären können. Sie machen ihren kümmerlichen Geist zum Mittelpunkt des Universums und schränken gleichzeitig die Welt auf ihre eigene beschränkte Existenz ein“.
„Was hat Euch also hierhergeführt? Ihr seid im rechten Augenblick gekommen. Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen und war dabei, mich nicht in den Abgrund zu stürzen“, unterbrach Werhan den Disput. „Ihr habt uns das Leben gerettet“.
Der Fremde lächelte ging aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er: „Wir sollten uns auf den Weg machen, bevor es völlig dunkel ist. Diese Stelle eignet sich nicht zum Übernachten. Vielleicht kommen die Taks wieder zurück. Sie sehen in der Dunkelheit besser als wir. Ich wäre ihnen dann unterlegen. Wo wolltet ihr eigentlich hin, als euch diese Bestien überfallen haben, und wer seid ihr?"
Horsa lächelte verlegen: „Wir machen einen Ausflug und haben uns verirrt“.
„So, ihr habt euch verirrt? Was war denn das Ziel eures Ausflugs, und wo seid ihr vom Weg abgekommen?"
Jetzt mischte sich Werhan ein: „Bevor Ihr weiter fragt, sagt uns lieber, mit wem wir es zu tun haben. Ihr werdet sicher verstehen, dass man in diesen unsicheren Zeiten nicht jedermann seine Pläne verraten kann“.
„Ich will eure Pläne gar nicht wissen, sondern habe euch lediglich gebeten, euch vorzustellen. Vergesst nicht, ich habe euch das Leben gerettet, und dies dürfte doch eine Basis für Vertrauen sein. Aber ich habe nichts zu verbergen. Ihr fragt, wer ich bin? Nun denn, ich heiße Montini und bin der Hüter dieser Berge“.
„Was heißt hier 'Hüter dieser Berge'?" Aus Horsas Stimme klang nun erst recht Misstrauen. „Soll das bedeuten, Ihr hütet irgendwelche Herden hier in den Bergen?"
„Nein, ich hüte die Berge selbst. Ihr müsst wissen, dass alles, was ist, von jemandem behütet wird, jedes Feld, jeder Baum und natürlich auch die Berge. Die Hüter geben sich in der Regel nicht zu erkennen, deshalb weiß man so wenig von ihnen“.
„Wer sind diese Hüter?"
„Das ist ganz verschieden. Manchmal sind es Menschen, zum Beispiel die Eigentümer eines Waldes oder eines Flusses. Oft sind es aber auch Wesen, deren Leben weit über das der Menschen hinausreicht. Übrigens gibt es auch Hüterinnen. Das Bewahren und Behüten ist nicht allein Aufgabe der Männer in dieser Welt. Es gibt sogar mehr Frauen, die behüten“.
„Und was macht ihr Hüter?"
„Wir schützen und bewahren das uns Anvertraute und sorgen für Ordnung. Ich möchte nicht, dass in meinen Bergen jemand zu Schaden kommt. Aber häufig komme ich zu spät, um zu helfen. Doch ihr habt mich rechtzeitig gerufen“.
„Wir haben Euch gerufen? Da müsst Ihr Euch irren. Wir haben nichts dergleichen getan“.
Nun war der alte Mann entrüstet. „Ich war doch auch offen zu euch! Warum bringt ihr mir nicht Vertrauen entgegen und gebt zu, dass ihr einen Rapulio besitzt?"
„Was ist ein Rapulio?" Marga stellte diese Frage.
Der Fremde wurde immer wütender: „Haltet mich nicht für einen Narren und spielt kein Spiel mit mir. Ihr könnt keinen Rapulio einsetzen und dann so tun, als wüsstet ihr nicht, was das ist“.
"Wir wissen es wirklich nicht“, wandte das Mädchen beschwichtigend ein. „So sagt uns doch, was Ihr damit meint“.
„Und wie habt ihr mich geholt?" fragte der Mann. „Wie bin ich auf euch aufmerksam geworden? Ihr habt mich gerufen. Davon wollt ihr jetzt nichts mehr wissen?"
„Wie können wir Euch rufen, wenn wir Euch gar nicht kennen?"
„Ihr habt mich aber gerufen, das weiß ich genau. In eurem Besitz muss etwas von großer Macht sein, mit dem euch dies gelang. Zeigt es nun endlich her!"
„Wie könnten wir Euch etwas zeigen, von dem wir gar nicht wissen, dass wir es besitzen?" Werhan war im Verlauf des Gespräches ärgerlich geworden.
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