„Am besten wird es sein“, meinte der Graf nach einigem Nachdenken, „wir schlagen uns nach Heckendorf durch. Dort wohnt der treue Mog. Er hat wackere Söhne und kennt Leute, denen man vertrauen kann. Dort bekommen wir sicher auch Waffen. Gutruh hat geheime Kammern, in denen so allerhand Nützliches lagert“.
„Was wird aus unseren Leuten auf der Insel?" fragte Marga bang.
„Wir sollten uns keine Sorgen machen“, antwortete ihr Bruder. „Sie haben Vorräte und sind auf der Insel sicherer als im Heimland. Vater Adelkrag ist ein erfahrener Mann, der schon viele schwierige Situationen durchstanden hat. Er wird das Richtige tun“.
Sie kamen während der Nacht nur langsam vorwärts, gönnten sich aber keine Ruhe. Es dämmerte bereits, als ein kleiner Vogel sich auf die Schulter von Marga setzte. Es war eine Nachtigall. Sie zeigte keinerlei Scheu vor den Menschen, sondern begann sogleich zu flöten. Das Mädchen blieb stehen und hörte genau zu. Als der Vogel sich mit einem letzten Triller wieder in die Lüfte erhob, rief sie erregt: „Gefahr! Der General muss uns doch verraten haben. Sogleich nach unserer Flucht aus dem Fort sind Reiter nach Süden galoppiert, und nun folgen uns auf dieser Straße eine große Anzahl Soldaten. Dies ist aber noch nicht alles. Von Westen und Süden eilen Rotten von schwarzen Männern auf uns zu. Das müssen Orokòr sein. Wir sitzen in der Falle“.
„Entweder hat der General seine Gedanken gut vor mir verborgen oder den Verrat erst später beschlossen“, Werhan war überrascht. „Nun bleibt uns nur noch das Gebirge“.
Horsa nickte stumm. Sie drängten sich nach rechts durch die Büsche am Wegrand und kletterten den steilen Hang hinauf, der sich dahinter erhob. Sie mussten sich an Bäumen und Büschen hochziehen. Kaum waren sie sechzig Fuß über der Straße, da hörten sie Pferde.
Eine raue Stimme rief: „Nun müssen wir das Pack doch bald eingeholt haben! Macht euch bereit. Wenn sie zu fliehen versuchen, bringt sie um“.
Die drei Menschen hielten den Atem an, bis die Meute vorüber war und waren erleichtert, als sie im kühlen Licht des Morgens endlich den Kamm des Berges erreichten. Dort ließen sie sich erschöpft auf den Boden sinken.
„Das war knapp“, stöhnte Werhan.
„Das kann man wohl sagen. Die Nachtigall hat uns gerettet. Was hat sie zu ihrer Warnung veranlasst?" stimmte Horsa zu.
„Sie mag uns einfach“, antwortete Marga sanft.
„Das ist doch Unsinn! Vögel mögen Menschen nicht. Wir sind ihnen so gleichgültig, wie sie uns gleichgültig sind“.
„So stolz wie du, sind die Tiere schon lang. Die Nachtigall, die uns gewarnt hat, war von hoher Geburt. Ihre Warnung entsprang ihrem Adel und ihrem Großmut. Aber nicht alle Vögel sind gleich. Manche sind intelligent und hilfsbereit, andere wieder geschwätzig und nur auf ihren Vorteil bedacht. Ich weiß von Tieren, die sehr unter der Kluft leiden, die zwischen den Lebewesen besteht, und ich kenne welche, die nur das eine Interesse haben, sich das Wams voll zu schlagen“.
„Und du bist sicher, dass du dir das nicht alles nur einbildest, und deine Phantasie mit dir durchgeht?" fragte der junge Graf spöttisch. „Ich habe doch glatt versäumt, die kleine Nachtigall mit all den ihr gebührenden Ehren zu empfangen. Wie kann ich diesen Verstoß gegen die Etikette wieder gut machen?"
Marga antwortete ihm nicht. Sie befanden sich auf einem mit Büschen bewachsenem Grad. Nördlich wurde der Berg von einem Tal eingeschnitten und westlich sah man einen hohen Gipfel, den Geierfels. Ob sie wollten oder nicht, sie mussten auf- und absteigen und konnten nur hoffen, dass sie sich in diesem fremden Gebirge nicht völlig verirrten. Kein Pfad erleichterte ihr Fortkommen. Die Kletterei war gefährlich und Kräfte zehrend. Endlich wichen die Bäume zurück und machten niederen Büschen Platz. Sie hatten den Pass zum nächsten Tal erreicht und einen prächtigen Überblick über das Bustergebirge. Gipfel reihte sich an Gipfel und im Süden breitete sich die weite Ebene des Heimlands aus.
Alle Gefahren schienen mit einem Mal weit entfernt und bedeutungslos. Sie muteten so klein an, wie die Dörfer und Felder aus dieser Höhe.
„Ich wünschte, wir müssten nicht wieder hinunter und könnten immer hier oben bleiben“, seufzte Marga.
„Ich glaube, du unterschätzt die Gefahren, die in dieser unwirtlichen Gegend auf uns lauern“, erwiderte ihr Horsa unwirsch.
Bald quälte sie Hunger, denn sie waren ohne Vorräte. Der General hatte sie zwar frei gelassen, aber völlig ausgeraubt.
„Vielleicht finden wir irgendwo Beeren!" Werhan gab sich optimistisch, während sie sich weiter Hänge hinauf und hinunter quälten. Als die Sonne hinter den hohen Bergen versank, hatten sie zum ersten Mal an diesem Tage Glück. Auf einer kleinen Bergwiese fanden sie eine verlassene Hütte. Sie war aus Bruchsteinen zusammengefügt und hatte ein einfaches mit Schindeln bedecktes Dach. Vorsichtig näherten sie sich der Unterkunft. Sie war unbewohnt. Ein Strohsack lag in der Ecke. Zusammen mit einem grob gezimmerten Tisch und zwei Hockern stellte er die ganze Einrichtung dar. Hier wohnten im Sommer Hirten. Sie hatten bei ihrem Aufbruch das wenige Geschirr, zwei angebrochene Porzellantassen und Teller, einfach stehen lassen. In einer Holzlade entdeckte Werhan ein Stück Ziegenkäse und jubelte. Er war alt und ausgetrocknet aber noch genießbar. Sie brachen ihn in drei Teile und kauten mit Genuss die harte Kostbarkeit. Später kuschelten sie sich auf dem Strohsack. Er roch muffig und war feucht, aber sie waren so müde, dass es ihnen nichts ausmachte.
Sie schliefen weit bis in den nächsten Tag und erwachten hungrig. Aber da war nichts mehr, was sie hätten essen können. Deshalb tranken sie nur Wasser vom Bach, der hinter der Hütte floss, und begaben sich wieder auf den Weg.
Der Hunger machte sie mürrisch, und die Kletterei erschöpfte sie rasch. Sie redeten wenig miteinander und keuchten wie am Vortag verbissen die Hänge hinauf und hinunter. Endlich erreichten sie einen Pfad, der sich von Osten nach Westen zog, und folgten ihm. Er war deutlich sichtbar und erst in jüngster Zeit begangen worden. Die jungen Leute rätselten, wo er wohl herkomme und wohin er führe. Sie beschlossen ihm zu folgen, auch wenn sie dadurch Gefahr liefen, jemandem zu begegnen.
„Es ist eine Schande, wie wenig ich mein eigenes Land kenne“, schimpfte Horsa. „Wenn wieder vernünftige Verhältnisse hergestellt sind, werde ich mit Gefolge das ganze Land bereisen und genaue Karten herstellen lassen“.
„Wenn erst einmal vernünftige Verhältnisse hergestellt sind“, wiederholte Werhan ironisch. „Glaubst du, dass du das noch erleben wirst?"
Man hatte den Pfad so angelegt, dass er Deckung von allen Seiten bot. Weder von den Bergen noch vom Tal konnte er eingesehen werden. Wer ihn benutzte, blieb ungesehen. Sie kamen rasch vorwärts. Die Kraft der Sonne nahm zu, und im Tal sahen sie weiße Nebel aufsteigen. Der Hunger war zwar längst zu einem vertrauten Begleiter geworden, aber nun kam auch noch der Durst dazu. Ohne Feldflaschen hatten sie vom Bach kein Wasser mitnehmen können.
„Ich könnte diesem feigen General den Hals umdrehen“, knirschte Werhan immer wieder.
Die Taks
Plötzlich rief Marga: „Still!"
Aufmerksam lauschte sie, und nun hörten auch die Männer Vogelstimmen. Die Tiere waren erregt, das fiel selbst ihnen auf.
„Feinde sind in der Nähe“, flüsterte das Mädchen. „Die Vögel haben Angst und warnen sich gegenseitig“.
„Kannst du herausfinden, wer sie sind?"
„Nein! Ich kann die Vögel auch nicht fragen. Sie sind zu aufgeregt und sprechen nicht mit mir“.
„Was sollen wir tun?"
„Ich weiß es nicht!"
Weit und breit gab es kein Versteck. Plötzlich hatte Horsa Angst, erbärmliche Angst. Noch nie in seinem Leben hatte er solche Angst verspürt. Er wollte sich zusammenreißen, sich nichts anmerken lassen. Aber er war unfähig zu einer Bewegung. Was war es, das ihn so erschreckte? War es das Unbekannte, das unweigerlich auf ihn zukam? Die Gefahr, die man nicht sieht, und auf die man sich nicht einstellen kann? Da fiel sein Blick auf seine Gefährten, und ihnen erging es nicht besser als ihm. Werhan lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht, und Marga war bleich wie der Tod.
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