Werhans Stimme erstickte. Er konnte nicht weitererzählen. Marga war stehen geblieben und schluchzte: „Sie rösten die arme, wehrlose Frau, die niemandem etwas zu Leide getan hat. Die Frau schreit. Es ist ein Schrei, der nicht aufhören will, der durch Mark und Bein geht, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Sie schreit so fürchterlich, und ich denke, wenn sie doch endlich aufhören würde zu schreien! Und dann schäme ich mich für diese Gedanken. Und sie schreit weiter. Die brutalen Schweine scheren sich nicht um ihr Schreien. Während die einen sie quälen, durchwühlen die anderen die Hütte und zerstören alles. Irgendwann erstirbt das Schreien. Es bleibt nur der Geruch von verbranntem Fleisch. Die Männer zünden alles an. Ich weiß nicht, warum wir in dem Durcheinander nicht weglaufen sind. Wir stehen beide wie versteinert und sehen der Verwüstung zu. Als alles brennt, werden sie wieder auf uns aufmerksam.
'Ihr kommt mit uns’, sagt einer. 'Ihr müsst doch froh sein, dass wir euch aus der Gewalt dieser Hexe befreit haben. Wer weiß, was die mit euch noch alles angestellt hätte. Hexen lieben Menschenfleisch, besonders schätzen sie das Fleisch von Kindern. Aber keine Angst, wir sind ja noch rechtzeitig gekommen. Und jetzt seid ihr frei und geht mit uns.'
'Ja’, sagt ein anderer. 'Und zum Dank dafür, dass wir euch mit so viel Mühe befreit haben, kannst du jetzt meinen Rucksack tragen.'
Ich nehme den Rucksack auf meine Schultern, und Marga trägt das Schwert eines dieser Schweine. Wir marschieren in den Wald, und hinter uns blökt die Ziege, die gemolken werden will. So beginnt unsere Flucht durch Centratur."
Hier endete Werhan, und sie sprachen den Rest des Tages auf ihrem Marsch kein Wort mehr miteinander.
Verrat in Steinbruch
Der Weg nach Steinbruch war weit. Obgleich die Wanderer den ganzen Tag kräftig ausschritten und sich kaum Pausen gönnten, waren sie, als es dunkel wurde, noch nicht am Ziel. Sie mussten eine weitere Nacht im Freien verbringen. Es wurde eine freudlose Nacht, in der sie sich ruhelos auf der harten, kalten Erde hin und her wälzten. Wie gerädert wachten sie auf. Horsa war unruhig. Die Zeit drängte. Deshalb machten sie sich sogleich auf den Weg und aßen ihr Frühstück beim Gehen.
Gegen Mittag befanden sie sich endlich auf der Höhe von Steinbruch. Jenseits des Flusses sahen sie aus Dächern Rauch aufsteigen. Eine hohe Palisade aus zugespitzten Baumstämmen umgab diesen äußersten Posten des Heimlandes.
„Da sind wir“, sagte Horsa. „Nun gilt es nur noch hinüber zu kommen“.
„Warum gibt es hier keine ordentliche Brücke?" fragte Werhan.
„Ich nehme an, weil man überraschenden Angriffen vorbeugen will. Immerhin sind wir hier in den Grenzlanden. Östlich des Erfstrom ist weites, unbewachtes Land. Nur der große Fluss schützt das Heimland. Jede Brücke würde diesen Schutz mindern und die Gefahr erhöhen. Aber es muss hier irgendwo einen behelfsmäßigen Übergang geben“.
Horsa wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war unerträglich schwül.
„Es wird heute noch ein Gewitter geben“, dachte er sich. „Hoffentlich haben wir dann in Steinbruch ein Dach über dem Kopf“.
Sorgfältig suchten sie das Flussufer ab, doch ohne Erfolg. Horsa schwitzte immer stärker und versicherte ungefragt alle paar Minuten: „Ich bin ganz sicher, dass wir hinüber kommen! Es muss einen Steg geben“.
Werhan sah ihn von der Seite zweifelnd an. Es war schon über eine Stunde vergangen, seit sie suchten, und die Sonne war hinter den dunkelgrauen Wolken nicht mehr zu sehen.
Endlich rief Marga: „Hier ist etwas!"
Die Männer eilten zu ihr und sahen verborgen zwischen Schilf und Binsen einen schmalen Steg. Er bestand nur aus zwei Brettern und hatte kein Geländer. Die Bretter ruhten auf Stämmen, die in den Grund des Flusses getrieben waren. Die Planken waren moosüberwachsen und glitschig. Es würde gefährlich sein, auf dieser morschen Brücke den großen Strom zu überqueren. In diesem Augenblick vernahmen sie erstes Donnergrollen, und es fielen dicke Tropfen.
„Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch vor dem Gewitter die andere Seite erreichen wollen“, sagte Werhan.
Doch es war zu spät. Schon prasselte ein heftiger Regen auf sie nieder, und Blitze erleuchteten den dunklen Himmel.
„Bei diesem Wetter möchte ich nicht über den Fluss“, beklagte sich Marga.
„Wir haben keine Wahl!" Horsas Stimme war anzuhören, dass er selbst Angst hatte. „Unter freiem Himmel ist ein Gewitter nie angenehm“.
„Dann los!" rief Werhan. „Wenn es denn sein muss, so sollten wir nicht zögern. Es kann nur noch schlimmer werden“.
Es zwängte sich durch Uferschilf und Morast und kletterte auf die Brücke. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, beide Arme zum Balancieren ausgestreckt, ging er vorwärts. Horsa wollte ihm folgen, erinnerte sich aber im letzten Moment an das Mädchen.
„Geh' du voran“, sagte er. „Ich bin hinter dir und kann dich auffangen, wenn du strauchelst“.
Sie kniff den Mund zu einem schmalen Spalt zusammen und betrat tapfer den nassen Steg. Die alten Bohlen bogen sich unter ihrem Gewicht und federten. Unter ihnen gurgelte der mächtige Strom, und von oben schüttete es wie aus Gießkannen. Langsam tasteten sie sich vorwärts. Sie waren schon in der Mitte des Flusses angekommen, als sich der Regen in Sturzbäche verwandelte. Dann schlug rechts neben ihnen ein Blitz ein. Der Donner, der sofort folgte, ließ sie taumeln. Aber dies war erst der Anfang. Um sie herum fuhren nun Blitze ins Wasser, und der Donnerhall warf sie hin und her. Es schien, als wollte jemand ihre Flussüberquerung mit allen Mitteln verhindern. Ängstlich standen sie auf den schmalen Planken und hielten sich an der Hand.
Marga war die erste, die sich zusammenriss und die Initiative ergriff.
„Bewegt euch!" schrie sie durch das tobende Unwetter. „Hier auf dem Fluss kommen wir um“.
Ihr Rufen riss die Männer aus ihrer Erstarrung und ließ sie weitertaumeln. Wie durch ein Wunder wurden sie von keinem Blitz getroffen, und je mehr sie sich dem anderen Ufer näherten, desto weiter entfernte sich das Gewitter. Zwar regnete es noch immer Bindfäden, aber die Blitze schlugen in größerer Entfernung ein, und der Donner wurde schwächer. Endlich hatten sie es geschafft und betraten aufatmend festen Boden. Kurz darauf standen sie vor dem Bollwerk des Forts. Triefend nass liefen sie an den grob behauenen Stämmen entlang bis zum Tor. Es war verschlossen.
Horsa rief: „Hallo! Aufmachen!"
Aber niemand hörte ihn. Erst als sie mit vereinten Kräften brüllten, wurde von innen der Riegel weggeschoben, und das Tor öffnete sich einen Spalt. Ein junger Erit streckte ärgerlich seinen Kopf heraus und fragte, welcher Idiot bei diesem Hundewetter Einlass begehre.
„Ich will zum General“, antwortete ihm Horsa herrisch und kurz angebunden. „Mach' endlich auf, Bursche“.
„So, du willst zum General?" entgegneter dieser schnippisch. „Könnte ich bitte deine Einladung sehen“.
Der Graf ereiferte sich über diese Unbotmäßigkeit über alle Maßen. Er tobte so sehr, dass dem Soldaten tatsächlich Bedenken kamen, ob vor dem Tor nicht doch Besucher von Bedeutung stünden und Einlass begehrten. Er öffnete den Torflügel noch weiter und ließ die Fremden hineinschlüpfen. Dann rief er seinen Offizier. Dieser hatte gerade geschlafen und war über die Unterbrechung seiner Nachmittagsruhe recht ungehalten. Die drei jungen Leute schienen Landstreicher zu sein, und er hatte keine Lust, sich allzu lange mit ihnen abzugeben. Horsa redete ihn freundlich an. Er erklärte, dass sie mit dringender Botschaft von weit her kämen und sofort beim General vorgelassen werden müssten. Er wahrte zwar sein Inkognito, deutete aber geschickt an, dass er von Rang sei. Dies beeindruckte den Offizier nicht.
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