Horsa beendete seine lange Erzählung mit den Worten: „Ich muss sofort den Widerstand organisieren“.
„Es gibt noch eine andere Gefahr“, erklärte ihm Werhan zu. „Orokòr sind an den Grenzen dieses Landes gesehen worden“.
Der Markgraf erbleichte und sagte: „Dann darf ich erst recht keine Zeit mehr verlieren“.
„Du hast recht“, stimmte Werhan zu, „und ich werde mit dir gehen“.
Marga meldete sich schüchtern zu Wort und zu Horsas Erstaunen, erklärte auch sie, dass sie ihn begleiten wolle. Niemand widersprach. Vater Adelkrag, so wurde nach kurzer Beratung beschlossen, solle mit dem Treck auf der Insel verweilen, bis die Soldaten abgezogen wären. Sie hatten einige Vorräte, von denen sie ein paar Tage zehren konnten. Horsa gelobte, aus Steinbruch Hilfe zu schicken. Aber die Flüchtlinge sahen ihn nur skeptisch an.
Auf der westlichen Seite des Flusses war das Soldatencamp, also blieb für ihre Flucht nur der Osten. Dort aber floss der Hauptarm des Erfstroms. Schwimmend war die Strömung nicht zu bezwingen. Ein Floß schien die Lösung. Zum Glück war der östliche Teil der Insel mit Bäumen dicht bewachsen und von den kampierenden Soldaten so weit entfernt, dass diese die Axtschläge nicht hören konnten. Die Stämme wurden mit Seilen verbunden, drei Ruder sollten das ungeschlachte Schiff manövrierfähig machen. Horsa, Werhan und Marga schnallten ihre Bündel um und sprangen auf die Stämme, die sofort tief ins Wasser eintauchten. Die alten Leute schauten ihnen mit versteinerten Mienen nach.
In der Nähe der Insel war das Wasser noch verhältnismäßig ruhig, und Horsa stellte sich schon auf eine leichte Überfahrt ein. Doch die Freude war verfrüht, denn plötzlich ergriff die Strömung das schwache Floß und warf es hin und her. Es drehte sich um sich selbst, und die unerfahrenen Schiffer ruderten, so gut sie konnten, um es wieder unter Kontrolle zu bringen. So sehr sie sich jedoch mühten, das östliche Ufer kam keinen Meter näher. Stattdessen wurden sie immer weiter abgetrieben.
„Wir schaffen es nicht“, schrie Horsa, um das Tosen des Flusses zu übertönen.
„Wir müssen“, war Werhans lapidare Antwort.
Da erhob sich Marga. Voller Staunen sah Horsa zu ihr hinüber. Obgleich das Floß schlingerte und schwankte, stand sie ganz ruhig und breitete die Arme über dem Kopf aus. Dann rief sie mit heller Stimme Worte, die der Graf nicht verstand. War es Magie? Halfen Vögel, Fische oder andere Lebewesen? Horsa wusste es später nicht mehr zu sagen. Aber er erinnerte sich, dass das Floß mit sanfter Gewalt zum östlichen Ufer getrieben wurde und endlich lautlos anlegte. Die Männer griffen nach Zweigen an der Uferböschung, und dann standen sie wieder auf dem Trockenen. Die Strömung riss die Baumstämme zurück in die Flussmitte. Das Wasser begann zu kochen. Aus den Fluten ragten grüne Steine gegen die das Holz mit lautem Krach prallte und zerbarst.
„Diese Stromschnellen hätten uns das Leben gekostet“, sagte Horsa atemlos.
Bewundernd sah er sich nach Marga um. Hoch aufgerichtet und stolz stand sie da. Ihre nassen Kleider klebten an ihrem schmalen Körper. Die untergehende Sonne stand hinter ihr, und in ihrem Schein bot sich die junge Gestalt hüllenlos den Augen des Grafen. Der konnte sich nicht satt sehen. Der Mann wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie in die Arme genommen.
„Mein Schwesterlein entwickelt Fähigkeiten, die nicht einmal ich ihr zugetraut hätte“, durchbrach Werhan das Schweigen.
Horsas seufzte: „So etwas wie diese Floßfahrt möchte ich nicht noch einmal erleben.“
„Man kann nie wissen“, die Stimme Margas klang seltsam und geheimnisvoll. Sie hatte sich in der kurzen Zeit, seit Horsa sie kannte, völlig verändert. Aus dem kleinen, scheuen Mädchen war eine eindrucksvoll schöne, junge Frau geworden.
Sie gönnten sich keine lange Pause, sondern brachen sogleich auf und liefen am östlichen Ufer nach Norden. Die Nacht war schon lange hereingebrochen, als sie noch immer wanderten.
Zaghaft und verlegen sagte irgendwann Werhan zu dem Gefährten: „Ich muss dir etwas gestehen“. Bei diesen Worten legte er Horsa seine Hand auf den Arm und fuhrt fort: „Ich kann deine Gedanken lesen, wenn ich dich berühre“.
„Das ist doch nicht möglich“, fuhr es dem Grafen durch den Kopf.
„Doch, doch!" antwortete Werhan laut.
„Wie soll das vor sich gehen?" dachte der Graf.
„Das kann ich dir nicht erklären“.
Plötzlich wurde es beiden klar, dass sie ein seltsames Zwiegespräch führten. Sie blieben stehen und lachten. Marga gesellte sich zu ihnen. Ein fürchterlicher Verdacht schoss Horsa bei ihrem Anblick durch den Kopf. Er wurde rot und schämte sich fürchterlich.
„Kann Marga etwa auch..?" stotterte er.
„Nein“, Werhans Stimme beruhigte ihn, „nur ich habe das Gedankenlesen gelernt“.
Die Hexe
Gegen Mitternacht schlugen sie endlich ihr Lager auf. Feuer wagten sie nicht zu machen, und so saßen sie müde und mit klammen Kleidern zusammen, nachdem sie im Finstern von den durchnässten Vorräten gegessen hatten. Sie waren viel zu aufgewühlt von den Ereignissen des Tages, als dass sie hätten schlafen können. „Weshalb habt ihr mir eigentlich geholfen?" fragte Horsa.
„Der Zauberer Aramar hat von dir erzählt und uns aufgefordert, dich zu unterstützen“, erklärte Marga mit ruhiger Stimme.
„Wo war das? Wo seid ihr ihm begegnet?"
„Es war vor genau zehn Tagen“.
„Also kurz nachdem wir uns auf dem Bauernhof getrennt hatten“, murmelte Horsa nachdenklich.
„Es war weit jenseits des Erfstrom. Wir kampierten am Rande der Oststraße. Seit Tagen hatte es geregnet, und unsere Vorräte waren aufgebraucht. Zur Kälte kam also noch der Hunger.
Gegen Mitternacht hörten wir zwei Reiter, die trotz der Dunkelheit im Galopp nach Osten ritten. Als sie uns entdeckten, hielten sie an. Eine bekannte Stimme fragte, wer wir seien. "
„Ihr kanntet die Stimme?"
„Ja, natürlich, es war Aramar“.
„Wer war bei ihm?"
„Ein Zwerg“.
„Was hat Aramar gesagt?"
„Dass er zwar sehr in Eile wäre, sich aber freue, uns zu treffen. Dann erteilte er uns den Befehl, sofort nach Westen aufzubrechen. Er beschrieb uns genau den Weg, den wir nehmen müssten. Auf dieser Straße würden wir dir begegnen, sagte er. Du würdest in großer Gefahr sein, und wir sollten dir helfen. Es gehe um Leben und Tod. Er selbst werde noch an anderen Orten gebraucht, wolle aber so schnell wie möglich zurückkommen. Dann stoben die beiden weiter. Sie waren während der Unterredung nicht einmal abgestiegen. Wir sind dann sofort aufgebrochen und ins Heimland gezogen. Alles verlief ohne Zwischenfälle, deshalb dachten wir schon, Aramar habe sich geirrt. Dann kamst du aber, und den Rest der Geschichte kennst du ja“.
„Wieso habt ihr ihm vertraut?"
„Wir waren ihm einige Zeit zuvor im Westen begegnet. Es war in der Nähe des Golfs von Orex, und er hat uns sehr geholfen“.
„Ihr habt von mir die Wahrheit hören wollen. Ich glaube, ich habe ein Recht, auch eure Vergangenheit zu erfahren. Wo kommt ihr her? Wer seid ihr?"
„Wir kommen aus einem Land tief im Süden“, begann Marga ohne auf die Zustimmung ihres Bruders zu warten. „Meine Erinnerungen an meine frühe Kindheit sind nur bruchstückhaft und nicht zusammenhängend. Wenn ich mich anstrenge, sehe ich vor meinem geistigen Auge eine große Stadt. Sie ist auf fünf Hügeln gebaut. Ihre Mauern sind schneeweiß. Schneeweiß ist auch der Wald von Türmen, der sie überragt. Durch fünf Tore ziehen den ganzen Tag Wagen und Menschen ein und aus“.
„Aber die Gesichter der Menschen“, fiel nun Werhan ein, „sind ernst. Ein Schatten der Trauer liegt auf ihnen, Trauer und Furcht. Die Menschen in dieser schönen Stadt sind unglücklich“.
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