„Was sollst du abgeben und wem?"
„Arznei für meine Großmutter“.
„Laß' seh'n!"
„Ich habe sie in meinem Rucksack“.
„Vorzeigen!"
Ächzend stiegt der Sergeant vom Pony und kam auf ihn zu. In diesem Augenblick geriet Horsa in Panik. Er wusste sich nicht mehr anders zu helfen, riss sein Schwert unter dem Mantel hervor, rannte auf den alten Soldaten zu und stieß es ihm, ohne lange zu überlegen, in den Leib. Dabei blickte er seinem Opfer ins Gesicht. Er sah die Augäpfel, sah, dass das Weiß mit einem gelblichen Schleier überzogen war. Er sah den abgeschabten Kragen der schäbigen Uniform und die unrasierten Wangen. Blut spritzte in einem breiten Strahl aus der Wunde, die das Schwert gerissen hatte und traf den Täter.
Ohne sich weiter um den Sergeant zu kümmern, stürzte Horsa zu dem anderen Soldaten, der starr vor Schreck auf seinem Pony saß. Als der vermeintliche Bauerntölpel mit dem blutigen Schwert auf ihn zusprang, erwachte er aus seiner Lähmung. Er ergriff die Zügel und gab dem Pferd die Sporen, aber schon war Horsa bei ihm und riss ihn aus dem Sattel. Hart schlug der Soldat auf dem staubigen Boden auf. Er war von dem Sturz noch betäubt, als ihm bereits die Kehle zugedrückt wurde. Horsa roch den Schweiß des jungen Burschen, den Schweiß der Hitze und den Schweiß der Angst. Er roch den säuerlichen Gestank aus dem Mund des Mannes und drückte noch fester zu. Verzweifelt schlug dieser um sich, aber der Graf hielt eisern fest. Schließlich wurden die Bewegungen des Überfallenen schwächer und sein Gesicht bleich. Dann ging ein Zucken durch seinen Körper, und er war tot. Ruhig lag er da, nur noch ein dünner Speichelfaden rann aus seinem offenen Mund.
Horsa stand auf und sah verwirrt auf die beiden Toten. Er hatte die Soldaten umgebracht! Er ekelte sich vor dem Tod, dem Schmutz und vor sich selbst. Das Blut an seiner Kleidung widerte ihn an. Er übergab sich so lange, bis sein Magen völlig leer war. Dann setzte er sich in den Staub und weinte bitterlich.
Immer wieder stammelte er: „Was habe ich getan? Was habe ich getan? Das wollte ich nicht! Wirklich, das wollte ich nicht!"
Als er sich wieder gefasst hatte, reinigte er sich von den Spuren des Kampfes. Zuerst säuberte er seinen Mund und wischte die Blutspritzer von seiner Kleidung, so gut es eben ging. Dann reinigte er sein Schwert am Mantel des Sergeanten. Zuletzt schleifte er die Leichen zum Straßenrand und bedeckte sie notdürftig mit trockenem Gras. Als alles gerichtet war, bestieg er eines der Ponys, nahm das andere am Zügel und trabte nach Norden.
Es war ihm klar, dass er die Steinbruchstraße so bald wie möglich verlassen musste. Die Herbstsonne brannte unbarmherzig vom Himmel. Gerne hätte er sich gewaschen, denn er fühlte sich innen und außen schmutzig. Doch Wasser war weit und breit nicht zu entdecken. Seinen Mantel trug er längst nicht mehr. Er hatte ihn hinten am Sattel zusammengerollt festgebunden, und sein Schwert hing offen an seiner Seite. Welchen Zweck sollte es noch haben, die Waffe zu verbergen? Er war ein Mörder und würde bald als Mörder gejagt werden. Es gab kein Ausweichen und keine Hoffnung auf Flucht.
Er mochte eine Stunde geritten sein, da sah er in der Ferne eine Staubwolke. Auf der Höhe von Windfeld war der Markgraf so nahe an die Staubwolke herangekommen, dass er sie als einen Flüchtlingstreck erkennen konnte, der sich mühsam dahinschleppte. Es waren elf Leute, die zwei Leiterwagen zerrten und schoben. Er zügelte sein Pony und fragte, wohin die Gesellschaft unterwegs sei?
Ein alter Mann, der nur noch zwei Zähne im Mund hatte, antwortete: „Nach Norden“.
„Das sehe ich. Aber was ist euer Ziel?"
„Wir haben kein Ziel, Herr. Unser Ziel ist es, in nächster Zeit etwas Essbares zu finden und eine ruhige Nacht zu verbringen. Das sind die Ziele, die für uns noch erreichbar sind. Alle anderen haben wir schon lange aufgegeben“.
„Ihr müsst doch wissen, ob ihr nach Steinbruch oder Eichelhain wollte?"
„Ganz wie es Euch beliebt, Herr!"
„Nicht wie es mir beliebt. Ich möchte wissen, was ihr vorhabt“.
„Warum möchtet Ihr das wissen?"
„Vielleicht kann ich mit euch reisen?"
„Das würde Euch wenig Freude machen. Wir kommen nur langsam voran, und Ihr seid auf euren beiden Ponys viel schneller als wir. So viel Zeit, wie wir brauchen, habt Ihr sicher nicht. Zeit ist das einzige, was uns noch geblieben ist. Alles andere haben wir verloren“.
„Ich will aber mit euch reisen. Meine Ponys könnten wir vor eure Karren spannen, dann kämen wir schneller voran“.
„Zu gütig, der Herr. Doch dieses Entgegenkommen können wir nicht annehmen“.
„Heißt das, ihr wollt mir verbieten, mit euch zu ziehen?"
„Was heißt verbieten, Herr? Flüchtlinge können niemanden etwas verbieten. Wir sind nur geduldet. Aber es wäre für uns und für Euch nicht gut, wenn wir zusammen gesehen würden“.
„Wir sollten den gütigen Patron erst einmal begrüßen“, mischte sich nun eine helle Stimme ein. Sie gehörte einem jungen Mann, der vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt war. Er ging auf Horsa zu und schüttelte ihm die Hand.
„Ich heiße Werhan“, sagte er freundlich. Dann wandte er sich an den Alten: „Lasst ihn, Vater Adelkrag! Wenn er unbedingt will, soll er eben mit uns ziehen. Die Hilfe seiner Ponys können wir gut gebrauchen. Wir alle sind in dieser Hitze am Ende unserer Kräfte“.
Das Wort des jungen Mannes schien Gewicht zu haben, denn der Alte gab sofort nach, obgleich er noch einwandte: „Ich bin nicht deiner Meinung, Werhan. Ich habe so ein Gefühl, als würde uns dieser Fremde in große Schwierigkeiten bringen“.
„Was haben wir zu verlieren?" Und an Horsa gerichtet, fragte Werhan: „Wie heißt Ihr?"
"Ich heiße Käsbein“.
"Na gut, Herr Käsbein, steigt ab und spannt Eure Pferde vor. Dann wollen wir machen, dass wir weiterkommen. Vielleicht findet sich irgendwo ein schattiges Plätzchen für eine Rast. Verdient hätten wir's. Diese verdammte Sonne ist noch schlimmer als der ewige Regen, den wir zuvor hatten“.
Rasch wurden die Pferde abgesattelt, und die Sättel auf einem der Wagen verstaut. Dann zauberte Werhan Pferdegeschirr herbei, und kurz darauf zog der Treck mit doppelter Geschwindigkeit weiter. Die Menschen liefen nun aufrecht und unbeschwert neben den Wagen. Horsa hatte sein Schwert, bevor er auf die Flüchtlinge getroffen war, in seinen Mantel gesteckt und trug das Paket unter dem Arm. Werhan gesellte sich zu Horsa und sprach mit ihm über so belanglose Dinge wie das Wetter und den Weg. Dabei legte er immer wieder vertraulich seine Hand auf Horsas Arm. Neben Werhan lief ein junges Mädchen. Es war vielleicht zwei Jahre jünger als der Mann. Werhan hatte sie als seine Schwester Marga vorgestellt. Sie waren schon über eine Stunde unterwegs, da blieb Marga plötzlich ängstlich stehen.
„Vor uns kommen Reiter", sagte sie.
„Na, dann sollen sie kommen“, antwortete Werhan.
„Aber es sind Soldaten!"
„Wir können vor ihnen nicht davonlaufen, also sollten wir uns auch nicht vor ihnen fürchten“.
Die Karawane zog weiter. Weit und breit war nichts zu sehen, was auf nahende Soldaten hingedeutet hätte.
„Woher will sie wissen, dass Soldaten kommen?" fragte Horsa erstaunt.
„Von den Vögeln“, antwortete ihr Bruder.
„Was heißt: von den Vögeln?"
„Marga versteht die Sprache der Vögel, und die Vögel rufen sich gegenseitig alles zu, was im weiten Umkreis vor sich geht. Sie haben auch dein Kommen angekündigt, und sie haben berichtet, was da im Süden einige Wegstunden hinter uns geschehen ist“.
Horsa war rot im Gesicht geworden.
„Was meinst du mit, ‘was da im Süden geschehen ist’?"
„Da hat ein Kampf stattgefunden, und da liegen Leichen. Wir sind jetzt eine Schicksalsgemeinschaft“. Werhan duzte den neuen Gefährten: „Es wäre besser, wenn du mir reinen Wein einschenken würdest. Nur so kann ich dir helfen, und nur so kann verhindert werden, dass man uns mit dir zusammen henkt“.
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