„Meint ihr, man kann das Zeug nach all den Jahren noch trinken?" fragte Galowyn.
„Im Loron vergeht und verdirbt nichts. Die Zeit hat hier wenig Macht." Es war Axylia, die antwortete.
Alle saßen erschöpft, müde und glücklich auf den Polsterstühlen. Sie genossen den Trank und seine berauschende Wirkung. Doch Aramar war unruhig.
„Ich sollte erst einmal in das Herz des Loron steigen“, sagte er, „und mir die notwendigen Informationen besorgen. Willst du mich begleiten, Urial?"
Dieser erhob sich stumm, und gemeinsam schritten sie die Treppe nach oben in unbekannte Gefilde. Die Zurückgebliebenen warteten noch eine Weile, wurden es dann aber müde. Sie machten es sich so bequem, wie es nur eben ging, und schliefen schließlich ein. Sie erwachten erst wieder, als ihnen Sonnenstrahlen durch die Fenster auf die Gesichter schienen. Fallsta und der Zwerg suchten zusammen mit Smyrna nach etwas Essbarem für das Frühstück. Sie schwärmten aus und fanden in den unteren Stockwerken weitere bequeme Salons und seltsame Wirtschaftsräume. Da war eine Küche ohne Esse und Feuerstelle, Vorratsräume mit seltsamen Behältern und Speisen. Bei ihrer Suche gelangten sie in einen Raum im Zentrum des Turmes. Er hatte keine Fenster, war leer, kreisrund und seine Wände dunkelblau gestrichen. In seiner Mitte stand ein Gestell, das eine große Kugel aufnehmen konnte.
„Wir müssen Aramar fragen, wozu dieser Raum dient“, bemerkte Smyrna.
Galowyn war derweil an eines der runden Fenster getreten. Sie sah hinaus in den Sonnenschein des Morgens und begann auf einmal zu singen. Sie sang mit heller, klarer Stimme eine schwierige Koloratur und dieses Lied leitete die Sonne von draußen in die Räume des Turms. Axylia saß still in einer Ecke und hörte der Gefährtin versonnen zu. Die beiden Zauberer kehrten aus dem Obergeschoß zurück. Sie machten sorgenvolle Gesichter. In diesem Moment betrat auch der Rest der Gruppe den Raum. Die Suche nach Nahrung war erfolglos gewesen. Aramar war geistesabwesend und reagierte nicht auf die Frage nach Lebensmitteln. So blieb der Gruppe nichts anderes übrige, als den noch vorhandenen Proviant auszupacken und das ausgetrocknete Brot langsam zu kauen.
Während sie aßen, begann der Zauberer zu erzählen, was er und sein junger Genosse in der Nacht auf der Spitze des Turms erfahren hatten. Zuerst kam die gute Nachricht. Nowogoro sei noch nicht in der Hand des Feindes, und man werde zu verhindern wissen, dass der Feind das Kloster besetze.
Urial stand feierlich auf und sagte stolz: „Wir haben heute Nacht den mächtigen Zauber der Alten wieder über Centratur gebreitet. Das Licht und die Kraft erstrecken sich wieder vom Loron bis nach Nowogoro."
Alle sahen ihn verständnislos an. Deshalb erklärte Aramar, dass es ihnen in dieser Nacht gelungen sei, ein Kraftfeld zwischen den beiden Bauwerken an der südlichsten und der nördlichsten Spitze des Thaurgebirges aufzubauen. Dieses Feld habe in den alten Zeiten immer über dem Land gelegen, sei aber irgendwann einmal nicht mehr gepflegt worden und deshalb zusammengebrochen. Für Nowogoro sei diese Rettung in letzter Minute gekommen. Das Kloster sei ganz vom Feind eingekreist und hätte nicht mehr lange standhalten können. Nun aber gebe es im Norden wieder eine mächtige Zauberfestung, die nicht nur allen Angriffen trotzen könne, sondern gleichzeitig auch den Loron im Süden unüberwindlich mache. Mit dem Feld zwischen ihnen vereinigten sich beide Zentren im Geist des Weißen Rates. Ein mächtiges Bollwerk sei in Centratur entstanden, auf das sie ihre Hoffnung gründen dürften.
Dann wurden die schlechten Nachrichten ausgebreitet. Feindliche Truppen beherrschten Centratur. Da seien zum einen die Fürsten des Reiches, die sich nach dem Tod des alten, alle vereinenden Hochkönigs erhoben hätten. Jeder von ihnen strebe nach der Macht. Aber nicht nur Fürsten, sondern auch Heerführer und Offiziere wären abgefallen. Revolutionen seien ausgebrochen. Kurz, es sei ein Kampf darum entbrannt, wer in Zukunft die Herrschaft über alle Königreiche ausüben dürfe, und wem die vorhandenen Reichtümer gehörten. Zu allem Unglück sei ein furchtbarer Gegner wieder aufgetaucht, vor dem man sich in Sicherheit geglaubt, den man längst vergessen hatte. Ormor, der Zauberkönig, sei aus dem Berg, in den er tausend Jahre verbannt gewesen war, befreit worden. Er habe alle grausamen Geschöpfe des Nordens um sich versammelt und überziehe von da die Welt mit einem erbarmungslosen Krieg. Orokòr und noch schlimmere Gestalten seien wieder in der Welt unterwegs. Viele der Fürsten hätten sich Ormor unterworfen und machten mit ihm gemeinsame Sache. Im Süden seien, um die Verwirrung komplett zu machen, seltsame Wesen aus dem fernen Osten aufgetaucht. Glatzköpfe, die Streit und Zwietracht säten und Kriege anzettelten. Auch in der Umgebung von Ormor habe man sie beobachtet.
Besonders erschüttert sei er, sagte Aramar, und tiefe Sorgenfalten zeichneten sein Gesicht, dass sein geliebtes Heimland bedroht sei. Er könne ihm aber nicht zur Hilfe eilen, wolle er nicht das Heil der ganzen Welt gefährden. Er werde nämlich an anderen Brennpunkten gebraucht. Aber zum Glück gäbe es im Heimland jemanden, dem er vertraue. Auf ihn gründe sich seine Hoffnung, dass das Schlimmste verhindert werde.
Wer denn gefährlicher sei, fragte Axylia, Ormor oder die Glatzköpfe.
Das wisse er nicht, antwortete der alte Zauberer. Alle verfügten sie über mächtige Zauberkräfte, seien skrupellos und ihnen sei jedes Mittel recht. Als er geendet hatte, herrschte betroffenes Schweigen.
„So wie ihr es dargestellt habt“, sagte Axylia endlich, „sehe ich keine Hoffnung für uns. Ich weiß nicht, was wir gegen diese Feinde unternehmen könnten."
„Wir müssen die Kräfte der guten Menschen vereinen und den Widerstand organisieren“, antwortete ihr der Zauberer.
Nun meldete sich auch Urial zu Wort: „Wir haben auch eine Verheißung gehört, die wir zwar nicht verstanden haben, die uns aber dennoch Mut macht. Sie lautet: 'Zwei kleine Leute sind unterwegs. Vertraut auf sie.' "
Sie waren so sehr ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie nicht darauf geachtet hatten, was vor dem Turm vor sich ging. Nun hörten sie auf einmal Lärm und viele Stimmen. Sie eilten an die Fenster und sahen im Morgenlicht lange Reihen von Kriegern in das Tal der Is ziehen. Die Soldaten schritten wie am Vortag in langen Reihen, und jeder Kolonne wurde ein dreieckiger Wimpel voraus getragen. Sie bildeten enge Kreise um den Loron, bis endlich alle an Ort und Stelle standen und stumm warteten. Ein hölzernes Podest wurde herbeigeschafft und vor den Stufen des Turmes aufgestellt. Darauf kletterten zwei kleine Gestalten. Ihre langen Arme waren von hellen Ärmeln überzogen, auf ihren Fingern steckten Nagelschoner und ihre kahlen Köpfe glänzten im Licht der Sonne. Wortlos hoben sie die Arme, so dass das Gold, das sie schmückte, blitzte. Auf ihre Zeichen hin begannen die Männer im Takt die Oberkörper hin und her zu wiegen, und dabei sangen sie die Laute: „Omm amm mi, omm amm mi."
„Ich glaube zwar nicht, dass sie dem Turm wirklich Schaden zufügen können“, sagte Aramar, „aber das Theater geht mir auf die Nerven. Ich werde ihm ein Ende bereiten."
Er öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon, der über der Eingangspforte aus dem Loron ragte, und trat hinaus. Verdutztes Schweigen breitete sich im Tal aus, als plötzlich ein Mensch auftauchte. Keiner der Angreifer hatte damit gerechnet, dass sich in dem geheimnisvollen Loron jemand aufhielt.
„Geht nach Hause in Frieden“, sagte der Zauberer in die Stille hinein. „Die Herren des Loron sind zurückgekehrt und beanspruchen ihre Macht. Wir wollen keinen Krieg mit euch, deshalb geht und meidet diese Welt des Geistes und des Friedens! Ihr könnt den Turm nicht bezwingen. Er wurde in der Zeit der Großen Könige gebaut. Ein mächtiger Zauber ruht auf seinen Steinen. Der Turm kann sich verteidigen, wenn er angegriffen wird. Diese Verteidigung ist tödlich. "
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