Die Soldaten entfernten sich langsam und gebückt aus dem verwüsteten Tal, und die fernen Zuschauer meinten, ihre Enttäuschung über die vergebliche Anstrengung zu spüren. Nur ein paar kleine Gestalten blieben noch und untersuchten den Loron. Auch sie zogen schließlich ab und ließen den schwarzen Turm allein und unberührt zurück.
Viel Zeit war vergangen, und die Gruppe musste an den Abstieg ins Tal denken. Doch alle hatten Angst vor den steilen, zerbrochenen Stufen ohne Geländer, die mehrere hundert Fuß in die Tiefe führten. Würden sie jemals heil unten ankommen. Selbst Aramar waren Zweifel und Angst anzusehen.
„Wenn wir jetzt ein Seil hätten, mit dem wir uns gegenseitig sichern könnten“, sagte er, „wäre viel gewonnen."
„Seil! Das ist es“, jubelte Fallsta. „Wir brauchen Seile."
„Ja, schon gut“, beruhigte ihn Urial. „Das wissen wir. Aber wo sollen wir sie hernehmen? Tragt Ihr etwa ein Bündel davon unbemerkt bei Euch?"
„Natürlich nicht. Aber wir werden Seile herstellen."
„Und wie, wenn ich fragen darf?"
„Ihr dürft! Aus unseren Decken. Wir werden unsere Schlafdecken in Streifen schneiden und zu Seilen zwirbeln."
„Und womit werden wir uns in der Nacht vor der Kälte und dem Regen schützen?"
„Im Turm wird es warm und trocken sein."
„Schon recht! Aber was ist, wenn wir nicht in den Turm hineinkommen?"
„Wir haben keine Wahl. Wir müssen alles auf eine Karte setzen. Hier können wir nicht bleiben, zurück aber auch nicht. Unser Weg führt da hinunter. Das ist unser Schicksal. Übrigens werden wir bald Besuch bekommen, denn unsere Verfolger haben nicht aufgegeben. Ich glaube nicht, dass wir den Rest unseres Lebens hier auf diesem felsigen Pfad verbringen sollten. Also, beginnen wir mit dem Zerschneiden der Decken."
Fallstas Argumente waren überzeugend, und so begannen sie, ihre Decken mit Messern in Streifen zu schneiden. Nur die Sängerin murrte.
Ihre Decke stamme schließlich aus Rejkor, sagte sie. Ihr damaliger Verlobter habe sie im teuersten Geschäft am Platz gekauft. Die Decke sei in den Farben der Saison gehalten und aus hervorragendem Material gefertigt. Im Übrigen sei sie die einzige Erinnerung an den geliebten Mann, und nun solle die letzte Verbindung zu einer glücklichen Zeit im wahrsten Sinne des Wortes abgeschnitten werden.
Smyrna unterbrach das Lamentieren: „Ach Galowyn, hör doch auf! Dein geliebter Mann war ein fetter Geldsack, mit dem du dich ständig gestritten hast. Deine Decke gefällt mir auch, aber du hast sie nicht in Rejkor gekauft. Vielmehr hat sie jemand bei dem Geldsack als ein Pfand hinterlassen und nicht mehr auslösen können. Dein Verlobter ist deshalb recht billig an dieses Prachtstück gekommen. Und dir hat er sie verehrt mit der Bedingung, dass du dich nie wieder bei ihm sehen lässt. Zerschneide sie jetzt endlich und spart dir deine Selbstlügen."
„Mit so einer gemeinen Person bin ich jahrelang durch die Gegend gezogen. Nun offenbart sich endlich dein mieser Charakter. Pfui!" Galowyn murrte noch ein wenig, aber sie machte sich wie die anderen ans Werk. Bald lagen viele Streifen aus Wolle vor ihnen, die sie ineinander verdrehten und dann verknoteten. Die so entstandenen Seile waren zwar unförmig, aber stabil und für ihre Zwecke ausreichend.
Der Zwerg ging als erster. Sie banden ihm den Strick um die Brust, und er kletterte rückwärts vorsichtig die brüchige Treppe hinunter. Als er auf einem Absatz festen Halt gefunden hatte, sicherte er und die anderen folgten. Galowyn, die nicht schwindelfrei war, bemühte sich, nicht in die Tiefe zu sehen. Durch die Angst wurde sie ungeschickt, glitt aus, rutschte über die Kante einer Stufe und verlor den Halt. Steine polterten in die Tiefe. Die Frau schrie und baumelte über dem Abgrund. Nur das Seil um ihre Brust verhinderte den völligen Absturz. Glaxca stemmte sich mit seinen kurzen Beinen gegen den Felsen. Sein Kopf war rot angelaufen. Mit beiden Händen umklammerte er das provisorische Seil. Aber er wurde langsam aber unaufhaltsam zum Abgrund gezogen. Obwohl ihre Brust immer mehr eingeschnürt wurde, schrie Galowyn in ihrer Panik lauter und lauter. Fallsta und Aramar eilten zu Hilfe und wären beinahe selbst gestrauchelt und abgestürzt. Endlich hatten sie die Unglücksstelle erreicht und gemeinsam gelang es, die Sängerin zurück auf die Treppe zu ziehen. Da lag sie, bleich und keuchend. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Die anderen aber sahen sich ängstlich um und lauschten, ob jemand den Zwischenfall bemerkt habe. Aber nichts war zu sehen und zu hören.
Nun bewegten sie sich noch langsamer, und es dauerte Stunden bis sie unten waren. Doch es gab keine weiteren Zwischenfälle mehr. Die letzten Stufen hatten sie bei Dunkelheit erreicht. Dort standen sie dicht zusammengedrängt in der Nacht und warteten darauf, dass sich ihre zitternden Muskeln und ihr jagender Herzschlag wieder beruhigten. Nachdem sie aufgebrochen waren, hatten sie bald einen befestigten Weg erreicht, der direkt zum Eingang des Loron führte. Der bewölkte Himmel klärte sich auf, und die bleiche Mondsichel warf ihr düsteres Licht über das Tal. Weit und breit war keine Wache zu sehen. Glaxca und Fallsta gingen als Vorhut, und die anderen folgten vorsichtig. Alle hatten ihre Waffen in den Händen und waren bereit, sofort zu töten. Das ganze Tal der Is erschien ihnen verdächtig.
Als sie die Felder erreichten, die das feindliche Heer am Tag niedergetrampelt hatte, sagte Smyrna leise: „Es ist eine Schande."
Dann machten sie eine Pause.
„Habt ihr eine Erklärung dafür, warum wir bisher niemanden getroffen haben?" wandte sich Galowyn an den Zauberer.
Der lachte leise: „Ich habe damit gerechnet. Die Feinde haben den Zugang zum Tal im Süden hermetisch abgeriegelt und unter Kontrolle. Deshalb glauben sie, niemand könne sich hier aufhalten. Sie erwarten niemand aus den Bergen, denn der Pfad, den wir gekommen sind, dürfte ihnen nicht bekannt sein. Ich glaube, Rotamin ist im Augenblick für uns ein sicherer Ort“
Nach einer weiteren halben Stunde hatten sie den Turm erreicht. Dunkel und drohend ragte der Loron vor ihnen auf. Um sein Fundament herum war ein breiter Sockel gebaut, zu dem steinerne Stufen hinaufführten. Vorsichtig näherte sich die Gruppe dem Bauwerk. Glaxca und Fallsta gingen voraus und stiegen langsam die Treppe empor. Leise umschlichen sie die große Rundung. Dann folgten die anderen. Endlich standen alle vor dem großen Tor. Es war aus einem unbekannten Metall, das im Mondschein blau schimmerte. Kein Türgriff, kein Knopf, keine Klinke waren zu sehen, mit denen man den Eingang hätte öffnen können. Kalt und abweisend zeigte sich der Turm seinen Besuchern.
„Da sind wir, so wie du es dir gewünscht hast“, sagte Aramar zu Urial. „Du musst den Loron nur noch öffnen, dann du bist am Ziel deiner Wünsche."
Urial hatte dazugelernt und antwortete: „Meister, wer den Turm verschlossen hat, soll ihn auch wieder öffnen."
Aramar lachte leise und näherte sich dem dunklen Tor. Dort legte er beide Handflächen gegen das harte Material und schien in sich selbst zu versinken. Alle schwiegen, sie wagten kaum zu atmen. Lange stand der Zauberer dort. Endlich öffnete sich langsam und lautlos der Türflügel. Der Loron von Rotamin war bereit, sie zu empfangen.
Zögernd traten sie ein. Ein Menschenalter waren diese Gemäuer nicht mehr betreten worden. Die Luft war trocken und abgestanden, aber nicht giftig. Als sie das Tor hinter sich geschlossen hatten, ging ein mattes, warmes Licht an. Vor sich sahen sie eine breite Treppe, die sich nach oben wendelte. Die Stufen waren aus dunklem Holz und mit Teppichen belegt. Auf jedem Treppenabsatz zweigten Gänge ab.
„Hier können viele Gäste untergebracht werden“, erklärte Aramar. „Ihr werdet euch wohl fühlen."
In den Aufenthaltsräumen lagen Seidenteppiche. Überall standen Polsterstühle und Liegen. Sie waren mit rotem Samt bezogen. Vor den Fenstern hingen rote Brokatvorhänge. Die Wände des größten Raumes im zweiten Stock waren mit Stofftapeten bespannt. Aramar ging zu einer mit wunderschönen Intarsien versehenen Anrichte, holte geschliffene Gläser hervor und schenkte aus einer Karaffe eine goldgelbe Flüssigkeit ein.
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