Ihr werdet im Loron alles finden, was ihr braucht. Deshalb verbiete ich euch, diesen Turm zu verlassen, bis ich wiederkehre. Böse Mächte werden kommen und versuchen, euch herauszulocken. Wenn ihr euch überreden lasst, ist alles verloren. Ihr seid nur stark im Turm. Vor seinen Mauern werdet ihr zu schwachen Menschen. Haltet die Verbindung mit Nowogoro und seid bei Tag und bei Nacht auf der Hut. Eure Wachsamkeit darf nie erlahmen. Stets darf nur einer von euch schlafen. Und ihr müsst Hader und Zwist unterdrücken. Bedenkt stets: ihr seid das Bollwerk in unserem Kampf. Von euch hängt unser aller Schicksal ab. Mögen die Unsichtbaren euch beistehen!"
Er legte den beiden seine Hände auf den Kopf und wandte sich dann ab.
„Nun kommt noch eine unangenehme Aufgabe“, sagte er endlich.
Er trat hinaus auf den Balkon und erhob beide Hände zum Himmel. Feuer fiel herab und hüllte gleich einem Sturm das Tal ein. Alle toten Krieger verbrannten. Und die Bäume und das Gras und die Hecken, und alles was lebte, verbrannten auch. Das ganze Tal Rotamin wurde schwarz und tot.
„In dieser verwüsteten Landschaft muss ich euch allein lassen“, sagte Aramar bitter, als er zurückkam. „Verzeiht mir, aber ich hatte keine andere Wahl. Auf jeden Tod folgt ein anderer, und die eine Untat zieht die nächste nach sich. Wir haben uns auf den Kampf eingelassen und müssen nun auch die Folgen tragen. Ich hoffe, dass das Leben in diesem Tal bald den Tod überwindet."
Sie schliefen noch eine Nacht im Loron, dann machte sich jeder auf seinen Weg. Glaxca eilte nach Norden, der Zauberer wanderte mit Fallsta, Galowyn und Smyrna nach Süden. Urial und Axylia aber verschlossen den Turm von innen und richteten sich auf eine lange Wache ein.
Westen
Obwohl die Welt in Flammen steht, darf das Heimland in dieser Geschichte nicht vergessen werden. Der alte Markgraf kam von seiner Reise in den Süden nicht zurück und hat vor seinem Tod die Herrschaft auf seinen Sohn Horsa übertragen. Der wiederum hat nun mit rebellierenden Untertanen zu kämpfen, und sogar seine eigenen Soldaten wollen ihm ans Leben. Er braucht dringend Verbündete. Deshalb macht sich auf den Weg zu einer Garnison, die in der äußersten Ecke des Heimlands stationiert ist.
Auf dem Weg dorthin tötet er zwei Soldaten und trifft schließlich Marga und Werhan. Gemeinsam erleben sie einen schlimmen Verrat, geraten in viele Gefahren und wandern schließlich durch ein versklavtes Land.
Totschlag
Der junge Markgraf schlich den schmalen Weg von Gutruh hinunter, huschte über die Straße und bog vorsichtig nach Osten ab. Mogs Schwert hing verborgen unter dem alten, weiten Mantel. Auf dem Kopf trug er eine zerbeulte Mütze. Das Gesicht hatte ihm Ev sorgfältig mit Schmutz eingeschmiert, damit man ihn auf keinen Fall als den überall gesuchten Grafen erkannte. Die fremden, abgetragenen Kleider waren schon unangenehm, aber der Dreck im Gesicht brachte ihn schier zur Verzweiflung. Doch er wusste, diese Verkleidung war notwendig, so schickte er sich in sein Missbehagen.
Horsas Ziel war die Alte Oststraße, die nördlich um Heckendorf herumführte. Sie wurde jetzt nur noch von Bauern benutzt. Heute wusste niemand mehr im Heimland, wer diese Straße einst angelegt hatte. Es gab sie schon, als die Erits vor undenklichen Zeiten eingewandert waren. Die großen Könige bauten erst Jahrhunderte später die heutige Oststraße. Dass alle Reisenden die neue Straße bevorzugten, war nicht weiter verwunderlich. Im Gegensatz zur Alten Oststraße verlief sie gerade und war darum um ein Vielfaches kürzer.
Bald hatte Horsa die erste Wiese überquert und sich durch zwei Hecken gezwängt. Das Dorf lag nun schon in einiger Entfernung hinter ihm. Kein Haus war mehr zu sehen. Das Gras war noch feucht vom Morgentau, und seine Hosenbeine nass bis zu den Knien. Er kümmerte sich nicht darum, sondern ging munter weiter. Flink sprang er über Gräben und schlüpfte durch immer neue Hecken. Er fühlte er sich frei. Beinahe hätte er ein Lied gepfiffen, so machte ihm diese Morgenwanderung Spaß.
Die Alte Straße, die er schließlich erreichte, war einst gepflastert gewesen. Davon waren jedoch nur noch wenige Steine übrig. Jetzt bestand sie aus zwei tief ausgefahrenen Furchen, zwischen denen Gras wuchs. Auf beiden Seiten säumten Schlehenhecken und Hagebuttensträucher den Weg. Die Sonne stand schon ziemlich hoch, und der Wanderer fand, dass es Zeit für eine Rast war. Guten Mutes setzte er sich in den Sonnenschein, breitete seinen Mantel aus und legte das Schwert neben sich ins Gras. Ev hatte ihm viele gute Sachen eingepackt, die er mit großem Genuss verzehrte.
Bis zum Einbruch der Nacht hatte er noch immer keine Menschenseele getroffen, nicht einmal als er am späten Nachmittag die Kleestraße, die zum fernen Beistalsee führte, kreuzte. Horsa suchte sich einen gemütlichen Platz in einem winzigen Hain, der nur aus fünf Bäumen bestand und mitten in den Wiesen abseits der Straße lag. Dort rollte er sich in seinen Mantel und schlief unbeschwert. Spät am nächsten Morgen reckte er sich und gähnte. Dann aß er mit mächtigem Appetit von seinen Vorräten, trank aus seiner Feldflasche und machte sich wieder auf den Weg.
Er kam auch an diesem Tag gut voran. Schließlich erreichte er die Steinbruchstraße und bog dort auf den schmalen, staubigen Weg ein, der nach Norden führte. Im Gegensatz zur Alten Straße gab es hier keine Hecken und nur vereinzelte Obstbäume spendeten Schatten. Die Herbstsonne brannte heiß von einem blauen, wolkenlosen Himmel. Horsa begann, unter seinem Mantel zu schwitzen.
Noch immer hatte es keine Zwischenfälle gegeben. Er wollte wieder einmal zum Singen ansetzen, da hörte er das Klopfen von Pferdehufen auf der ausgetrockneten Erde. Erschrocken suchte er nach Deckung, aber weit und breit war nichts, hinter dem er sich hätte verbergen können.
In der Ferne tauchten zwei Reiter auf, die ihren Pferden die Sporen gaben und rasch näherkamen. Minuten später zügelten sie ihre Ponys an seiner Seite. Es waren Soldaten des Markgrafen, ein Unteroffizier mit grauen Haaren und ein einfacher Soldat, der noch nicht einmal volljährig war. Dieser junge Bursche war sicher erst vor kurzem zur Armee eingezogen worden. Beide trugen keine blitzenden Uniformen sondern abgewetzte Wamse und zerschlissene Stiefel mit abgetretenen Absätzen. Sie waren nicht zu vergleichen mit dem eitlen Major, den er und Mog bei ihrer Flucht aus den Windspitzbergen getroffen hatten. Dies hier war das Fußvolk, Männer, für die der Dienst im Heer alles andere als ein Vergnügen war, die immer zu kurz kamen. Sie mussten stets die unangenehmen Aufgaben ausführen, den am wenigsten beliebten Dienst tun. Natürlich hatten auch sie Lust auf ein wenig Plündern; doch, wenn sie endlich zum Zuge kamen, war die Beute längst verteilt, und ihnen blieb das Nachsehen. Das waren die Enttäuschten, die Verbitterten, und das machte sie gefährlich.
„Wer bist du?" herrschte der Ältere den Grafen an.
„Ein Knecht aus Mühlendorf“. Horsa versuchte seiner Stimme einen furchtsamen Klang zu geben. „Aber wer seid ihr?"
„Wir sind zwei arme Schweine, die bei dieser Hitze nach dem Rechten sehen und Grafen suchen müssen. Aber das geht dich gar nichts an. Hier stellen wir die Fragen“.
„Sehe ich wie ein Graf aus?"
„Nein, weiß Gott nicht“. Die Antwort kam spontan, und sie ärgerte Horsa.
Der Sergeant fuhr mit dem Verhör fort: „Auch, wenn du kein Graf bist, was machst du hier?"
„Ich bin auf dem Weg nach Steinbruch“.
„Was willst du dort? Antworte Bursche, sonst hole ich dir die Worte einzeln aus dem Mund, und das wird dir nicht gefallen“. Der Soldat war wütend. „Wegen euch Gelichter müssen wir hier herum traben“.
„Ich soll dort etwas abgeben“. Horsas Stimme zitterte, er kam ins Stottern und bemerkte verzweifelt, dass er versäumt hatte, sich rechtzeitig eine Ausrede zu überlegen.
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