„Ihr haltet Euch für unbezwinglich?" schallte eine krächzende Stimme empor. "Da irrt Ihr! Eure Zeit ist abgelaufen! Die neuen Herren des Turmes sind wir, und wir erheben Anspruch auf ihn. Öffnet uns die Pforten des Loron, und Ihr könnt Euch unbehelligt aus dem Staub machen. Wenn Ihr aber Widerstand leistet und bleibt, so werdet Ihr wünschen, nie gelebt zu haben."
Einer der Gnome auf dem Podest hatte die Worte geschrien. Bei dem bösen Klang schauderten alle, die sie hörten.
„Diese Drohungen sind nutzlos. Spart sie Euch und kehrt dorthin zurück, von wo ihr gekommen seid. In Centratur ist kein Platz für Euch. Wenn Ihr nicht aufgebt, so wird es keiner von Euch überleben." Aramar sprach ruhig und mahnte zur Vernunft.
„Wie viele seid Ihr denn, dass Ihr es wagt, uns zu drohen?"
„Es kommt nicht auf die Zahl an. Ein Einzelner reicht, um Euch alle zu vernichten."
Großes Gelächter war die Antwort.
„Du willst es nicht anderes“, schrie der Glatzkopf wieder und schleuderte seinen Zauber auf den alten Mann. Doch der prallte wirkungslos ab. Wütend gab der Gnom den Soldaten einen Wink. Ein Pfeilhagel sollte den Zauberer treffen. Dieser hatte dem Heer aber bereits den Rücken gekehrt und die Balkontür geschlossen, so dass die Geschosse nur gegen die Festung prallten.
Kurz darauf setzte der Singsang wieder ein: „Omm amm mi, omm amm mi."
„Es hilft nichts. Den Wahnsinnigen muss eine Lektion erteilt werden. Sie wird fürchterlich sein. Mit dem Turm kann man keine Spiele treiben. Ich werde das Land von diesem Heer befreien."
Der Zauberer schritt durch den Turm. Sein Ziel war der blaue Raum, den die Männer und Smyrna nach dem Erwachen entdeckt hatten. Dort holte Aramar eine schwarze Kugel aus Metall, deren oberes Ende abgeschnitten war, aus einer Vertiefung in der Wand. Es war eine Klangschale. Diese Schale stellte er auf das Gestell in der Mitte des runden Raumes. Dann fuhr er sanft mit einem lederbezogenen Klöppel über die Kante der Halbkugel. Nach ein paar Minuten begann die Schale zu schwingen. Ein tiefer, klarer Ton erfüllte den Raum. Das Volumen des Tones nahm zu, schwoll an, erfasste den ganzen Turm, und das Bauwerk selbst begann zu schwingen. Erst ganz schwach, dann immer mächtiger. Der schwingende Loron erzeugte den gleichen Ton wie die Klangschale. Dieser Ton wurde lauter und lauter. Er breitete sich im ganzen Tal aus. Die Soldaten fühlten ihn mehr, als dass sie ihn hörten. Starr vor Schrecken kam das Wunder über sie und ihnen wurde warm und heiß. Der schwingende Turm brachte ihr Blut buchstäblich zum Kochen. Entsetzen erfasste alle und eine wilde Flucht begann. Die Männer trampelten sich gegenseitig nieder. Alle hatten nur noch einen Wunsch, das Tal Rotamin zu verlassen. Doch es gab kein Entrinnen. Einer nach dem anderen brach zusammen und verendete elend. Auch die Gnome starben. Zuletzt war der Boden übersät mit Leichen. Dreieckigen Wimpel überragten die Ernte des Todes.
„Deine Rache war schrecklich“, sagte Axylia leise. Sie und die anderen Mitglieder der Reisegesellschaft hatten fassungslos aus den Fenstern dem Unheil zugesehen.
„Ich hatte keine andere Wahl." Der mächtige Zauberer hatte sich wieder in den gebückten, alten Mann verwandelt, dem man unter den Arm greifen wollte, um ihn zu stützen. „Wenn wir den Kampf um Centratur nicht verlieren wollen, dann können wir keine Rücksicht nehmen. Entweder wir unterwerfen uns und liefern die Welt dem Bösen aus, oder wir umgeben unsere Herzen mit einem Panzer und vergessen unser Mitleid. Keiner der Angreifer hätte auch nur das geringste Gefühl der Barmherzigkeit mit uns aufgebracht. Doch ich lasse euch die Wahl: geht eurer Wege oder kämpft mit mir."
„Wir haben keine Wahl! Die Spielregeln sind in der Welt, und ihr habt sie eben definiert. Wenn alles vorbei ist, wird der Kampf mit unserem Gewissen beginnen."
Smyrna hatte für alle gesprochen.
Mittagszeit war schon vorbei und Aramar holte aus den Tiefen des Turmes köstliche Speisen. Doch hatte keiner Lust, etwas zu essen. Sie saßen trübsinnig in den weichen Polstern des großen Salons. Urial nahm den Zauberer beiseite und fragte: „Warum habt ihr Quantam bei der Beschreibung des Kraftfeldes nicht erwähnt?“
Die Antwort war kurz und barsch: „Weil dieser Name eines der größten Geheimnisse von Centratur ist. Nicht einmal du dürftest darüber Bescheid wissen!“
Am späten Nachmittag fanden sich alle zur Beratung zusammen.
„Wir brauchen Hilfe“, erklärte Aramar. „Dieser Sieg hier hat nichts zu bedeuten. Der Kampf, der uns bevorsteht wird schrecklich, und die Übermacht des Feindes ist groß. Zwar besitzen wir in Nowogoro und dem Loron zwei wichtige Bastionen und haben Zeit gewonnen, aber ohne Unterstützung bleiben die friedvollen Völker von Centratur ohne Chance."
„Wer könnte denn helfen?" erkundigte sich Galowyn.
„Es gibt nur ein Volk, das stark und mächtig genug für diesen Kampf wäre, die Achajer."
„Die Achajer haben sich auf ihre Inseln zurückgezogen. Wie können sie von unseren Sorgen erfahren? Und wenn sie Bescheid wüssten, würden sie kommen?" Glaxcas Stimme klang verzweifelt.
„Es wäre klug und in ihrem Interesse, wenn sie uns zu Hilfe kämen. Zuerst fällt nämlich Centratur, aber dann streckt der Feind seine Klauen auch nach den Inseln aus. Wie immer sie sich auch entscheiden. Wir müssen sie benachrichtigen. Du wirst zum Golf von Orex reiten, Glaxca. Dort liegt ein Schiff der Achajer. Ich werde einen Brief schreiben, den gibst du dem Kapitän. Dann soll das Schicksal seinen Lauf nehmen. Doch ob nun die Achajer kommen oder nicht, ich werde mit allen meinen Kräften gegen die Feinde antreten."
„Woher soll Glaxca ein Pferd bekommen?" mischte sich Fallsta ein. „Und wie habt ihr beide euch überhaupt getroffen?"
„Getroffen haben wir uns“, fuhr der Zauberer fort, „durch Zufall. Es war im Heimland. Ich war auf dem Weg in den Süden. Da wurde ich von einer ganzen Kompanie Eritsoldaten überfallen. Zwar konnte ich mich wehren, wäre der Übermacht aber doch erlegen, wenn nicht Glaxca vorbeigekommen wäre und mir mit seiner Axt beigestanden hätte.“
„Ich mag es nicht, wenn die Kräfte ungleich verteilt sind", murmelte der Zwerg. „Alte Leute soll man ehren und nicht umbringen.“
„Glaxca hatte dem Morden der Orokòr zusehen müssen und war auf der Suche nach Hilfe. Wir freundeten uns rasch an und setzten unseren Weg gemeinsam fort. Inzwischen haben wir so manche Gefahr erlebt.“
„Wie bekommst du ein Pferd?" fragte Fallsta noch einmal den Zwerg.
„Graufell wird inzwischen den Weg zu uns gefunden haben. Er wird uns ein prächtiges Ross von den Weiden Equans holen." Für Aramar gab es keinen Zweifel an seinem Pferd. „Dann reitet Glaxca nach Norden, und wir gehen nach Süden."
„Was wird mit den Leichen dort draußen geschehen?" fragte Urial. „Wenn sie bleiben und verwesen, vergiften sie das Tal."
„Ich werde mich um sie kümmern“, antwortete der alte Zauberer düster. „Aber zunächst müssen wir festlegen, wer den Loron bewacht."
„Dies ist mein Auftrag. Selbst wenn ihr mich zerreißt, ich werde dem Gebot meiner Oberen folgen, bis zum Tod."
Urial hatte leise aber mit großer Festigkeit in der Stimme gesprochen.
„Du wirst deinen Auftrag erfüllen“, stimmte ihm Aramar zu. „Aber dieser Turm ist zu wichtig, um dich allein zu lassen. Du wirst Hilfe brauchen. Doch wer von uns könnte dich unterstützen?"
„Ich!" sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. Axylia stand auf und trat in die Mitte der Versammlung. „In diesem Turm hat sich mein Schicksal entschieden. Hier werde ich bleiben und wachen, bis meine Zeit gekommen ist."
Aramar erhob sich und sprach mit feierlicher Stimme: „So übertrage ich dir Urial und dir Axylia die Herrschaft über den Loron, den Turm des Weißen Rates. Wenn dieser Turm fällt, so wird auch Centratur fallen, und keine Macht kann dann noch Rettung bringen. Ihr seid allen Geschöpfen dieser Welt mit eurem Blut verantwortlich. Auf eure Schultern lege ich die Verantwortung. Seid stark und klug und widersteht allen Gefahren und Anfechtungen.
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