Einmal frage ich unsere Retterin, wer sie sei. Sie antwortet leise: 'Eine einsame Frau'“.
„An den Winterabenden sitzen wir um die Feuerstelle. Das Feuer rußt nicht. Die Frau strickt oder spinnt die Wolle der Schafe. Dabei erzählt sie. Sie erzählt von den Zeiten, bevor es Menschen gab. Sie lässt mächtige Königreiche in unserem Kopf entstehen und zerfallen“.
„Sie war weise. Ich habe mir vieles von dem gemerkt, was sie uns sagte. So zum Beispiel: Wichtig ist nicht, was jemand sagt, sondern was jemand tut. Gesagt wird viel in der Welt und getan wenig. Wenn du jemanden erkennen willst, achte auf seine Taten und nicht auf seine Reden“.
„Und ich habe mir gemerkt: Die Weisheit steckt im Herzen und nicht im Gehirn“.
„Ich erinnere mich an eine andere Szene. Es ist Sommer. Wir sitzen auf der Bank vor dem Haus. Die Frau hat ein Huhn gefangen und ihm den Kopf abgehackt. Während sie es rupft erklärt sie mir: 'Das Tier ist dein Bruder und deine Schwester. In dieser Welt kannst du nur leben, wenn sich jemand für dich opfert. Deshalb müssen wir den Tieren für ihr Opfer dankbar sein.'
'Aber’, entgegne ich, 'die Tiere wollen doch nicht getötet werden. Wie kannst du von Opfer sprechen, wenn du sie zwingst?'
'Oh’, meint sie, 'Opfer werden in der Regel nicht gefragt. Wenn alle Opfer freiwillig wären, gäbe es wahrscheinlich keine Opfer. Aber es geht auch nicht um das Tier, sondern um uns. Es geht darum, dass wir schuldig werden müssen, wenn wir leben wollen. Und es geht darum, wie wir mit dieser Schuld umgehen. Nehmen wir den Tod von Hase und Ziege, von Huhn und Fisch als selbstverständlich hin, oder begreifen wir, dass hier ein Lebewesen für uns sein Leben gelassen hat. Wo bliebe sonst unsere Dankbarkeit dafür, dass wir leben dürfen, während dieses Huhn sterben musste?'
'Was habe ich mit dem Huhn zu tun?' frage ich erstaunt.
'Das Huhn ist deine Schwester und das Schaf dein Bruder. Wenn du sie tötest, stirbt stets auch ein Teil von dir. Habe die gleiche Ehrfurcht vor deiner Nahrung, die du vor dir selbst hast! Leute, die töten um des Tötens willen, haben nie gelernt, sich selbst zu achten.' "
„Einmal, wir sind vielleicht schon drei Jahre dort, werden wir beide krank. Wir haben Masern oder Keuchhusten oder eine andere Krankheit, die Kinder bekommen. Wir liegen auf unseren Heulagern und die Frau gibt uns Tee. Dabei erklärte sie: 'Jede Krankheit will uns etwas sagen. Jede Krankheit bringt den Menschen einen Schritt weiter. Wenn die Krankheit heraus will, sollst du sie nicht unterdrücken, sonst bleibt dir ihre Botschaft verborgen. Ihr müsst die Botschaft der Krankheit entschlüsseln. Ihr müsst lernen, was euch die Krankheit lehren will“.
„Na, und was hat sie euch gelehrt“, fragte Horsa spöttisch.
„Sie lehrt einen jeden etwas anderes. Im Übrigen, wenn sich das so leicht mitteilen ließe, bräuchten die Menschen nicht mehr krank zu werden. Nein, die Lehren deiner Krankheit musst du schon selbst ziehen“.
Werhan hatte ernst geantwortet und war nicht auf den Scherz eingegangen. Horsa erwiderte nichts und schämte sich ein wenig.
Marga überspielte die Verlegenheit und fuhr fort: „Die Frau wird von den Tieren geliebt. Stets fliegen Schwärme von Vögeln um ihr Haus. Katzen liegen überall. Hühner picken auf dem Hof. Hasen hoppeln herum und sind nicht in Ställe gesperrt. Nur Schweine gibt es nicht. Die Frau sagt, als wir sie nach Schweinen fragen: 'Wer Schwein isst, wird selbst zum Schwein.'
Wir lernen Heilkräuter erkennen, Ziegen melken, Hühner schlachten, Körbe flechten, Obst einmachen“.
„Und Gedanken zu lesen“, platzte Werhan heraus.
„Die Frau im Wald hat dir das beigebracht?" fragte Horsa erstaunt.
„Ja, es war mein Geburtstagsgeschenk. Sie konnte eine Menge Dinge, die andere Menschen nicht können“.
„Aber warum hat dann Marga das Gedankenlesen nicht gelernt?"
„Die Frau meinte, wenn ich die Gedanken der Männer erkennen könnte, würde ich nur in Verlegenheit kommen. Es wäre besser, wenn ich nicht wüsste, was in den Köpfen der Männer vorgeht“.
Horsa errötete und blickte zu Boden.
„Zum Ausgleich dafür, dass ich Gedankenlesen durfte, brachte die Frau meiner Schwester das Sprechen mit den Vögeln bei. Ich weiß nicht, welches von beiden die größere Gabe ist“.
Es war inzwischen Mittag geworden, und sie hatten eine große Strecke zurückgelegt. Das wurde ihnen erst jetzt bewusst, denn die Zeit war mit dem Erzählen rasch vergangen. Bisher war ihnen niemand begegnet, und auch die Vögel hatten Marga nichts mitgeteilt.
Sie vesperten auf einer Wiese und lagen dann auf dem Rücken und sahen in den hohen, blauen Himmel. Horsa wünschte sich, jetzt mit Marga allein zu sein. Er hätte sie gern in den Arm genommen. Da erinnerte er sich, was die Alte über die Gedanken von Männern gesagt hatte und zwang sich ganz rasch, an etwas Anderes zu denken. Nach einer Stunde brachen sie wieder auf. Eine Zeitlang gingen sie schweigend neben einander.
Endlich fragte Horsa: „Wie ist es weitergegangen? Warum habt ihr diese Frau, die euch so viel Gutes tat, verlassen?"
Die beiden taten, als hätten sie seine Frage nicht gehört. Deshalb hakte er nach: „Jetzt möchte ich auch wissen, wie eure Geschichte endet“.
„Sie endet nicht schön“, sagte Marga, „und ich möchte nicht darüber reden“.
Horsa war entrüstet: „Ihr könnt doch nicht mittendrin aufhören!"
„Er hat ein Recht darauf, das Ende zu hören“, lenkte Werhan ein. „Aber ich will es kurz machen. Es waren etwa fünf Jahre vergangen. Es war eine glückliche Zeit gewesen, wahrscheinlich die schönste Zeit in unserem Leben. An einem Tag im Spätherbst, draußen pfeifen schon die kalten Stürme durchs Land, sitzen wir im Haus beim Mittagessen. Die Frau hat Grütze gekocht und sie mit Kräutern und Gewürzen abgeschmeckt. Sie mundet köstlich. Plötzlich geht die Tür auf, ein eiskalter Windstoß fährt herein, und in der Tür steht ein Mann. Wir sind völlig überrascht, denn in all den Jahren haben wir niemals einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen als die Frau. Der Mann tritt herein und hinter ihm drängen andere nach.
Einer sagt: 'Na sieh mal an, wir kommen gerade recht zum Essen. Sind wir eingeladen?'
Die Frau antwortet: 'Setzt euch! Es wird auch für euch noch reichen.'
'Das glaube ich nicht’, sagt einer der Männer. 'Wir lassen uns nämlich nicht abspeisen. Das was wir wollen ist kein Brei, sondern etwas viel Besseres, wir wollen dein Geld.'
'Ich habe kein Geld’, antwortete die Frau.
'Erspare dir Ärger und uns Mühe’, grölt nun einer der Burschen. Sie sind alle noch recht jung. 'Rück’ es freiwillig heraus.'
'Ich kann euch nicht geben, was ich nicht habe.'
Da packen die Schweine die Frau und schlagen sie. Wir stehen hilflos und ängstlich in der Ecke und wissen nicht, ob wir schreien sollen. Unserer Freundin läuft das Blut aus Mund und Nase.
'Willst du nun endlich reden!' schreit einer der Schweine zornig und schlägt wieder zu. Da sackt die Frau zusammen. Die Männer treten sie mit Füßen, aber sie bleibt leblos liegen.
'Schafft die Hexe 'raus’, brüllt ein anderer.
Die wehrlose Frau wird auf den Hof gezerrt und in den Dreck geschmissen.
'Es ist kalt hier’, schreit einer dieser Schweine übermütig. 'Das Weib braucht Wärme. Kommt her.'
Dabei zeigt er auf uns.
‘Holt Holz und macht ein Feuer!’
Wir ahnen, um was es geht und weigern uns. Aber sie haben Gefallen an der Idee gefunden und prügeln uns so lange, bis wir schließlich Reisig holen und auf dem gestampften Boden Feuer machen.
'Na also‘, sagt der erste Mann. 'Ihr könnt eure Freundin doch nicht frieren lassen.'
Dann rufen sie: 'Und nun wird die Hexe geröstet!'
Die Frau ist inzwischen zu sich gekommen und versuche wegzulaufen. Aber sie ist zu schwach und wird sofort eingeholt. Sie strampelt mit Händen und Füßen als die vier Schweine ihre Beine ins Feuer halten. Aber sie hat keine Chance“.
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