Die schwarz-roten Schuhe quietschten und knarrten dem Ausgang zu. Die Damenschuhe stöckelten klackend hinterher. Die Tür öffnete sich. Dann tappten auch die Doggenpfoten und die großen schwarzen Schuhe hinaus. Elisa schloss die Luke. Sie hörte, wie an der Straße Autotüren schlugen. Als sie um die Hausecke blickte, preschten die Limousinen in einer wirbelnden Staubwolke davon.
Der Professor hockte zusammengesunken auf einem Schemel. Er bemerkte Elisa erst, als sie dicht vor ihm stand. Erschöpft hob er seinen Blick. Sie konnte an seinen Augen sehen, wie niedergeschlagen und traurig er war, und er tat ihr sehr leid. Wortlos wickelte sie den Schal aus dem Geschenkpapier und legte ihn dem Professor über die Schultern. Doch anstatt sich zu bedanken, sprang er plötzlich auf und rief laut in Richtung Tür: „Ich lasse mich nicht kleinkriegen! Elender Schurke!“
Wild entschlossen setzte er sich wieder an seinen Computer und vertiefte sich in die komplizierten Formeln auf dem Bildschirm.
„Ich werde es beweisen!“, sagte er laut vor sich hin, wobei er sich den Schal fest um den Hals zog.
Elisa verließ auf Zehenspitzen das Laboratorium. Sie durfte den Professor jetzt auf keinen Fall von der Forschungsarbeit ablenken. Angesichts seiner Probleme erschien ihr nun das Ärgernis mit den Milchräubern ziemlich klein und unwichtig.
Aristoteles bekam seine Milch seitdem immer in der Diele eingeschenkt.
„Ich hab dir eine neue Wärmflasche mitgebracht“, sagte Elisa, als sie am Abend die Wohnstube betrat.
„Das ist lieb, mein Kind“, antwortete die Großmutter. „Meinem Rücken geht es inzwischen besser. Nur das Herz tut weh. Aber da hilft leider keine Wärmflasche.“
„Mama hat vorhin angerufen“, berichtete Elisa. „Sie hatte aber wenig Zeit, weil sie einen dringenden Termin beim Frisör hatte. Ich soll dich herzlich grüßen und dir sagen, dass sie das Geld noch nicht schicken konnte, weil sie im Moment so viele Ausgaben hat. Ein Bekannter hat sie zum Essen in ein teures Restaurant eingeladen und nun braucht sie unbedingt neue Schuhe, weil die alten überhaupt nicht zu ihrer neuen Haarfarbe passen.“
Die Großmutter nickte stumm.
„Oma, mein Kleid kratzt so auf der Haut. Außerdem wird es mir unter den Achseln zu eng. Und eigentlich mochte ich karierte Sachen noch nie besonders gut leiden.“
„Jetzt werden die Kirschen reif“, murmelte die Großmutter leise vor sich hin. „Opa hat klappernde Windmühlen in den Bäumen befestigt, um die hungrigen Stare zu vertreiben.“
Elisa trat an den Lehnstuhl heran und legte ihre Wange an Großmutters Schulter.
„Neulich kam ich an einem Laden vorbei“, sagte sie. „Da liegt ein Kleid im Schaufenster, gar nicht teuer. Es ist orangerot wie ein Sonnenuntergang.“
Da schien der Großmutter etwas einzufallen, denn sie versprach: „Am Samstag backe ich uns einen Kuchen, mit viel Kirschen auf lockerem Teig. So mag Opa ihn am liebsten. Dazu gibt es Schlagsahne.“
Elisa griff nach Großmutters warmer Hand.
„Man darf die Hoffnung niemals aufgeben. Nicht wahr, Oma?“
Die alte Frau wandte dem Mädchen das Gesicht zu und lächelte.
„Ja“, bestätigte sie, „solange wir einen Schatten werfen, bleibt uns die Hoffnung.“
Dann sah sie wieder aus dem Fenster.
16. Ungebremste Rücksichtslosigkeit
„Meine Großmutter war in letzter Zeit furchtbar vergesslich geworden“, vertraute mir Elisa an. „Sie konnte den versprochenen Kuchen gar nicht backen. Sie hatte schon wieder vergessen, dass es die Kirschbäume nicht mehr gab. Den großen, alten Nussbaum gab es auch nicht mehr und die Tulpenbeete und die Himbeersträucher. Denn genau dort, wo einmal der Garten war, verlief jetzt die Autobahn. Aber ich mochte sie nicht ständig daran erinnern. Es hätte sie zu sehr geschmerzt. Und jemandem, den man lieb hat, will man doch nicht wehtun.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte ich. Elisa fuhr fort: „Die Autobahn hätte ja auch einfach einen Bogen um den Garten machen können. Dann hätten die Autos in dieser Kurve eben ein bisschen langsamer fahren müssen. Aber die Bauleute meinten, dass eine gerade Autobahn viel wichtiger wäre als die Kirschbäume, die Erdbeerpflanzen und die Rosenstöcke, und wichtiger als die kleine Laube mit der weißen Bank unter den Weinranken, wo Oma und Opa immer so gern beieinandergesessen haben.“
Es war still um uns her. Nur die reifen Halme des Kornfeldes flüsterten im sanften Windhauch miteinander, und das Werkzeug, mit dem ich hantierte, klapperte leise. Auf einmal war aus der Ferne etwas zu vernehmen, das meine schweifenden Gedanken in die Wirklichkeit zurückholte.
„Hörst du das auch?“, fragte ich und legte den ausgebauten Vergaser aus den Händen. Wir lauschten. Ein Motorengeräusch! Es kam rasch näher. Da tauchte auch schon ein großer Geländewagen über dem Hügel auf.
„Na endlich!“, rief ich. „Der kann mir bestimmt helfen.“
Schnell griff ich das Abschleppseil aus dem Kofferraum und stellte mich auf die Straße. Der Wagen brauste mit hoher Geschwindigkeit heran. Ich konnte den Fahrer durch die staubbedeckte Windschutzscheibe sehen. Hoffnungsvoll reckte ich den Arm empor und schwenkte das Seil. Doch der Mann am Steuer schien einfach über mich hinwegzublicken. Nur noch wenige Meter trennten mich von ihm. Wollte er nicht endlich abbremsen? Schlief er etwa?! Ich erstarrte. Der klobige Kühler des Geländewagens kam auf mich zu! Jetzt schreckte der Fahrer auf wie jemand, der tief in Gedanken versunken war.
Ich sprang zur Seite. Im selben Moment riss er das Steuer herum. Der Wagen schleuderte bis über den Straßenrand hinweg, wo er eine Staubwolke aufwirbelte. Fast wären mir die breiten Geländereifen über den Fuß gerollt. Der Mann schien nur mit Mühe die Gewalt über das Fahrzeug wiederzugewinnen. Ohne die Bremsen betätigt zu haben, gab er Gas und raste auf der Straßenmitte davon. Mit aufsteigender Empörung starrte ich ihm nach.
„Hat man so was schon gesehen!“, schimpfte ich, während die Staubwolke über mich hinwegwehte. „Der hätte mich beinah mit Vollgas über den Haufen gefahren!“
Elisa war erschrocken von ihrem Baumstumpf aufgesprungen. Es dauerte eine Weile, bis wir uns beruhigt hatten und sie mit ihrer Erzählung fortfahren konnte.
„Was willst du schon wieder hier?“, knurrte der Professor übelgelaunt an einem seiner schlechten Tage. Im Laboratorium waberte ein brenzlig riechender Dunst umher, der darauf schließen ließ, dass dem Erfinder wieder einmal eine seiner Apparaturen um die Ohren geflogen war. Nicht nur sein Arbeitskittel, sondern auch der neue gelbe Schal hatte vom Rauch eine graue Farbe bekommen.
„Mir ist da was eingefallen“, begann Elisa zu erklären. „Man müsste eine Möglichkeit finden, den kleinen Prinzen vor der Katastrophe zu warnen.“
Der Professor verdrehte unwillig die Augen. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du ihm noch irgendwie helfen kannst? Hast du das Buch etwa nicht zu Ende gelesen?“
„Ich weiß ja, die Giftschlange“, räumte Elisa ein. „Aber wenn der Flieger den kleinen Prinzen danach nicht mehr gesehen hat, dann ist das noch lange kein Beweis dafür, dass er gestorben und im Wüstensand versunken ist. Wenn er es nun doch irgendwie auf seinen Planeten geschafft hat…?“
Der Professor lachte laut auf und sagte: „Angenommen du hättest Recht und er wäre tatsächlich nicht an dem Schlangenbiss gestorben – es gäbe ihn doch heute sowieso nicht mehr!“
„Aber warum denn nicht?“, stammelte Elisa erschrocken. Der Professor beugte sich zu ihr hinunter.
„Was meinst du wohl, wann ich das Buch gelesen habe, hm? Ich hab’ es gelesen, als ich selber noch ein Junge war!“
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