„Mann“, erklärt er dann, „das ist Grün ist die Hoffnung, kennste das etwa nicht? Ein total abgefahrenes, mega-geiles Buch! Magste mal lesen? Ich geb‘s dir gerne. Also, pass auf: da sind so ein paar Typen, die wollen Gras irgendwo auf der anderen Seite der Grenze anbauen und richtig fett Kohle damit machen, alles natürlich total geheim, und dann geht irgendwie alles schief, Mann, und dann kommt dieser Bär, der sich das ganze Zeug reinzieht, stell‘ dir vor, und der ist dann total breit, und dann......“ Yoav kann sich nicht mehr an alles erinnern, was Boyle darüber geschwafelt hat, aber die Sache ist auch so klar: T.C. ist sein großer Held. Völlig ok. Wir brauchen alle einen davon in dieser wahnsinnigen Zeit.
Apropos wahnsinnig: Heute ist Yoav etwas Verrücktes passiert. Ein komischer, alter Typ ist ihm über den Weg gelaufen und will ihm seitdem seltsamer Weise nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich absurd, denkt er sich, die meisten Penner in der Gegend um den alten Schlachthof herum sind ziemlich scheu und zurückgezogen oder aber zu besoffen und zugedröhnt, um noch einen klaren Satz formulieren zu können . Doch dieser hier ist anders gewesen. Es war gleich, nachdem er aus Tonys Bude heraus gekommen ist und es schon dunkel wurde. Tony hat ihn heute ungewöhnlich lange belabert, sie haben sich über den Burger hinweg warm geredet und sind dann irgendwie bei Yoavs Zukunftsplänen gelandet. Dann hat Tony für sich ungewöhnlich heftig auf Yoav eingeredet, so von wegen er solle doch sein Talent nicht vergeuden und zu diesen Spießern und verdorbenen Geldheinis gehen, das wäre doch eine Schande, und er, Tony, könne das nicht zulassen, nach all dem, was gewesen sei, und so weiter. Yoav erinnert sich noch, dass er gleichzeitig verwundert und etwas angefressen war, denn Tony ist sonst immer das Verständnis und die Güte selbst, aber hier ist er dann plötzlich ganz dickschädelig und leidenschaftlich geworden und hat Yoavs Argumente einfach nicht gelten lassen wollen. Guter Tony. Wie könnte er es ihm übel nehmen.
Und dann dieser Alte, der unter den ziemlich verranzt riechenden, abgetragenen Klamotten und der alten, löchrigen Wollmütze so einen klaren, fokussierten Blick gehabt hat. Und erst diese seltsam tiefe, hypnotische und weiche Stimme! Noch nie hat er zuvor auch nur annähernd so etwas gehört. Zuerst hat er sich nichts dabei gedacht, als der Alte sich aus dem Schatten der Häuserwand plötzlich herausgelöst und mit der typische Handbewegung nach einer Fluppe gefragt hat. Er ist in Gedanken noch ganz bei Tony und seiner Moralpredigt gewesen und hat automatisch in seine Jackentasche gegriffen, um sein Päckchen heraus zu ziehen, so wie er es eigentlich immer tut, wenn ihn einer der Penner darum bittet. Aber dann diese Augen, und diese Stimme erst!
Der Alte hat sich bedankt, mit klaren, wohlformulierten Worten, mit dieser langsamen, tiefen Stimme, die sich wie ein Balsam auf sein Gemüt gelegt hat. Dann noch dieser Blick unter der dicken Wollmütze hervor, der sowohl durchdringend, als auch sehr warmherzig auf ihn gewirkt hat.
„Was bringt Sie hierher, an diesen Ort?“, hat Yoav unwillkürlich fragen müssen.
Der Alte hat daraufhin mit einem seltsam ernsten Unterton geantwortet: „Die Wahrheit. Und die Zukunft dieser Welt.“
Yoav erinnert sich, dass er nicht wusste, was er daraufhin entgegnen sollte. Doch der Alte hat einfach seine Hand genommen und gedrückt und zu ihm gesagt: „Wenn dich beides auch bewegt, dann weißt du, wo du mich findest.“ Dann ist er mit einem Lächeln zum alten Schlachthof abgezogen.
Ein Verrückter, der nicht mehr alle Beutel im Becher hat? Einer diese Method-Schauspieler auf Recherche? Ein schlechter Scherz seiner Kommilitonen, durch den er sich heute Nacht noch als unfreiwillige Lachnummer im Netz wiederfindet? Oder etwa ein weiser Alter in dem Gewand eines Bettlers, wie in diesen antiken, längst vergessenen Mythen, die er in der Uni-Bibliothek gelesen hat? Sollte es wirklich noch Wunder geben können in dieser trostlosten, hoffnungslos entwurzelten, kopf- und panikgesteuerten Stadt?
Ich werde der Sache auf den Grund gehen , beschließt Yoav.
Logbuch Mission 2036-623c, Astronautin Kisha Moon, Sternzeit 22019.54, Tag 4. Gesendet an Basis um 1:37 SRZ. Erneut keine Empfangsbestätigung.
Status: Die ersten drei Außenmissionen haben zu keinerlei brauchbaren Ergebnissen geführt. Die Bedingungen sind unverändert gegenüber zuvor gesendeten Berichten. Habe Radius erneut erhöht, aber selbst innerhalb 15.000 Standard-Meter-Marke keine Zeichen von Leben oder Energiequellen ausmachen können. Bordsysteme der Raumkapsel zunehmend instabil, Tendenz steigend. Die Situation ist inzwischen als lebensbedrohlich einzustufen. Action Items: Da auf gesendete Berichte hin weder Empfangsbestätigung noch Kontakt zur Raumbasis erhalten werden konnte, muss ich von defekter Kommunikationseinheit ausgehen. Auslaufende Energiereserven zwingen zu alternativem Plan. Werde auf deutlich erweiterten Erkundungstrip mithilfe des maximal aufgeladenen Portable Suits und der Mitnahme von Notrationen gehen. Da Außenluft atmungskompatibel laut Scanner-Messung, ist bei energiebedingtem Ausfall des Portable Suits die Gefahr vertretbar. Werde in Richtung Norden aufbrechen, wo ich eine Wolkenbildung ausmachen konnte. Nächster Bericht, falls möglich, in 20 Standard-Stunden. Missionsbericht 3 Kisha Moon Ende.
Das ist also der traurige Stand der Dinge: ein Desaster. Wenn sie sich jetzt nicht zusammen reißt und etwas riskiert, wird sie in der sterbenden Raumkapsel und der nicht enden wollenden Wüste genüsslich verdorren. Fakten bleiben eben Fakten, egal wie sehr sie das noch in Panik versetzen mag, aber die Kommunikationseinheit ist ganz offensichtlich Schrott.
Also Plan B. Vielleicht ist es nur eine ihrer Intuitionen gewesen oder sie hat auf dem letzten Außentrip tatsächlich etwas entdeckt, das einer Wolkenstruktur geglichen hat, doch so oder so steht der Entschluss jetzt fest: Es geht nach Norden. Heute Nacht hat sie die knappen Energiereserven der Sphäre genutzt, um den Portable Suit startklar zu machen. 12,5 Stunden Standby-Betrieb verbleiben noch und eventuell wird sie auf die Verbindung zur Raumkapsel komplett verzichten müssen, falls der Marsch deutlich länger ausfallen und sie sich wieder so schlecht fühlen sollte. Das muss dieses Drecks-Klima sein, wälzt sie in Gedanken hin und her, aber im nicht mehr allzu fern erscheinenden Notfall muss sie leider auf genau dieses Drecks-Klima zurückgreifen.
Die Sonne steht bereits im Zenit, als sie den zuvor erkundeten Radius hinter sich gelassen hat. Ihr Körper läuft mittlerweile rund, in automatischen, fließenden Bewegungen, doch ihr Kopf dröhnt und wehrt sich weiterhin stoisch gegen die unwillkommene Realität. Die Hitze des Mittags, die über der kargen, staubbedeckten Ebene flirrt, und das eintönige, fast hypnotisierend wirkende Gelände machen es ihr schwer, mit ihrem natürlichen Auge zu navigieren. Kurzerhand entscheidet sie sich, einen Teil der knappen Energiereserven zu opfern und das visuelle 3D-Display zu aktivieren. Sofort bauen sich die geografischen und atmosphärischen Messdaten vor ihr auf und projizieren eine nahezu gerade Linie auf ihr Ziel zu. Kisha analysiert die Fakten flüchtig. Dann denkt sie angestrengt nach: Bei den Bedingungen müssten doch zumindest eine intelligente Lebensform und damit die Chance auf eine brauchbare Energiequelle existieren . Die Ödnis bleibt ihr vorerst eine Antwort darauf schuldig.
Die vorgegebene Route scheint sich in die Unendlichkeit zu dehnen. Der Planet zeigt nicht die geringste Reaktion auf ihre Anwesenheit. Keine Lebewesen, keine energetischen Signale, keine materialisierten Gedanken oder Bewegungen, nichts, das sich irgendwie mit ihrer Präsenz in Verbindung bringen ließe. Nur Leere, Stille und Eintönigkeit. Sie fühlt sich seltsam deplatziert an diesem Ort, es kommt ihr vor als sei er unwirklich, eine Projektion lediglich, ein riesiger Zerrspiegel, eine abstruse Reflektion. Aktion, keine Reaktion, analysiert sie verwirrt. Dafür aber eine Atmosphäre, die ihr Denken wie ein Aggressor infiltriert und ihrem Körper samt Kapsel die Energien absaugt. Es fühlt sich irgendwie falsch an, als wäre dies alles nur ein Spiel, eine Animation zuhause auf dem holografischen Display, Kausalität außer Kraft gesetzt. Ein Feind ohne Namen und ohne Gesicht.
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