Müde und enthusiastisch von einem ergiebigen Tag mit der Nase in dicken Wälzern galoppiert er die breiten Steintreppen hinunter. Auf dem Absatz spürt er ein flaues Gefühl im Magen. Wann hast du das letzte Mal was zwischen die Kiemen gekriegt , fragt er sich in dem ironischen Ton, mit dem er sich an guten Tagen mit sich selbst unterhält. Und heute ist genau so ein Tag. Die Sonne eines noch frühen, launischen April scheint motivierend auf die emsigen Ameisen der Stadt herab. Bald bin ich auch eine von ihnen , denkt sich Yoav, bald habe ich den Abschluss in der Tasche und dann ist es vorbei mit diesem freien, selbstbestimmten, geilen Studenten-Leben, mit den langen Nächten, den stundenlangen Computer-Sessions, den ziellosen Diskussionen nach ein paar Bier und einer Fluppe mit diesem Freak von einem durchgeknallten Roommate. Schluss mit den lockeren Klamotten, den ungewaschenen T-Shirts, den ausgelatschten Sneakers und dem roten Lieblings-Sweatshirt. Dann werde ich so ein steifer Schlipsie wie die Ameisen da draußen. Seine Stirn kräuselt sich bei dieser nicht allzu attraktiven Vorstellung. Aber was hab´ ich denn für eine Wahl.
Es ist noch Zeit für einen Burger, nicht dieses Dreckszeug mit der wuchtigen Vorsilbe, das die Großstadt wie eine Epidemie überschwemmt und zu einem kulinarischen Niemandsland hat verkommen lassen. Wie kann man dieses Zeug nur essen , hat er sich oft gefragt, wenn seine Kommilitonen den Mist suchtartig in sich reinstopften, ohne wirklich satt davon zu werden. Nein, lieber zu Tony, der noch weiß, wie man einen Burger macht, richtig frisch, knackig, riesig und mit ganz viel Liebe. Die paar Meter mehr lohnen sich immer , beschließt Yoav und wirft sich in Vorfreude seinen abgenutzt aussehenden, braunen Lederbeutel über die Schulter.
Zielstrebig biegt er um ein paar Blocks und dann in die enge Hinterhofgassen ein, welche die gläsernen Hochglanz-Fassaden und immer höher wachsenden Architekten-Tempel Lügen strafen. Hier, in diesem Paralleluniversum der Metropole, stapeln sich haushoch die Müllsäcke, Abfälle und Nebenprodukte der ach so hohen Zivilisation, die Dinge und Menschen, die sie als nutzlos ausgespuckt, weggeworfen und sich selbst überlassen hat. Bis der Gestank da oben in den noblen Etagen ankommt, denkt sich Yoav. Er weiß das. Der Grat zwischen der einen oder anderen Welt ist so schmal wie der Bordstein, der sie voneinander trennt, und wenn man nicht von Haus aus mit ordentlich Kohle aufgewachsen ist, dann hilft einem nur noch ein heller Kopf und sehr, sehr viel Glück. Yoav ist äußerst dankbar für den zweiten Teil dieser Gleichung, der ihm in die Wiege gelegt wurde, warum auch immer, pures Schwein, was nicht heißt, dass er die andere Seite nicht kennt.
Nach zwanzig Minuten Hochhaus-und Hinterhof-Labyrinth öffnet sich abrupt der strangulierende Zugriff der Stadt und ein weites, brachliegendes Gelände breitet sich vor seinen Augen aus. Gras hat sich teilweise der alten Industrieanlagen bemächtigt und heroisch durch das jetzt nutzlose Metall gekämpft. Alte Schienen erinnern noch an den Gütertransport von und zu dem alten Schlachthof hin, dessen wenig ruhmvolle Vergangenheit nun unter Staub und wucherndem Grün vergraben liegt. Alte, herumliegende Matratzen lassen vermuten, dass sich hier nachts ein paar von der Stadt ausgespuckte Seelen ausruhen und etwas Frieden zu finden versuchen. Zur Linken hat sich wacker eine Reihe einfacher Läden und Kioske gehalten, welche von sehr billigen Mieten und von zwangsweisen Sparern zu jeder Tages- und Nachtzeit profitieren.
In vielerlei Hinsicht ist dies hier das echtere, ehrlichere Bild der Stadt , sinniert Yoav, als er direkt auf Tonys Bude zusteuert. Die wirklich gefährlichen Ecken liegen woanders, in den großen Türmen, in denen so ungleich mehr Glamour und nur vermeintlicher Anstand haust, oder aber in den Ghettos voller blanker, archaischer Überlebens-Brutalität, dem blinden Fleck dieser Stadt. Aber hierher kommen diese Leute nicht. Auch Yoav hätte Tony und seine Bude nie gefunden, wäre da nicht die Zeit gewesen, da er um jeden dazuverdienten Penny und um jede Chance eines Zuhauses dankbar gewesen war. Nein, nicht nur Tonys Offenbarung von einem Burger treibt ihn immer wieder hierher. Er wird auch niemals seine Freundlichkeit, Gastfreundschaft und Güte vergessen, egal was auch in seinem Leben noch passieren mag.
„Hey Yoav!“, tönt es ihm herzlich entgegen, während er zeitgleich mit einem magischen Klingeln in den kleinen, hellen Imbissraum fällt. Ich bin Zuhause , denkt er sich zufrieden und tritt hungrig ein.
Es ist schon spät, als er vor der Tür seines Zimmers in den Untiefen seiner Hosentasche nach dem Schlüssel kramt. Die Stadt liegt unter dem surrenden Licht der Reklametafeln, Hochhausbeleuchtungen und Shop-Transparente, dem zweifelhaften Glanz der Straßen-Spots, Ambulanzsirenen und Autoscheinwerfer. Elektro-Smog vom Allerfeinsten , folgert Yoav. Dann stöbert er endlich auf, wonach er gegraben hat, und die Tür gibt mit einem Knarzen den Weg frei. Sofort kommen ihm der synthetisch erzeugte Soundtrack eines Computerspiels und der Geruch einer Billig-Pizza entgegen, von deren Sorte sich Boyle, sein Mitbewohner, wohl ausschließlich ernährt.
„Gehst du eigentlich jemals raus?“, schreit Yoav um die Ecke zum Geruchs- und Geräusch-Epizentrum hin.
Eine seltsam kratzige Stimme dröhnt von dort lautstark zurück: „Hey, Kumpel, was geht?“
Ich weiß echt nicht, ob es an dem ganzen Gras liegt, das sich Boyle reinzieht und dessen Geruch wir wohl nie wieder aus den Möbeln rauskriegen werden, aber wenn ich ihn höre, muss ich immer an einen 12-Jährigen im Stimmbruch denken , reflektiert Yoav, als er auf Boyles Reich zustapft. „Schon mal in die Küche geschaut heute?“, wirft er ins Zimmer, während er entspannt am Türrahmen lehnt.
„Ja, Mann, hab‘ extra was von der Pizza für dich übrig gelassen, wenn du magst“, gibt Boyle unter Kauen von sich. Er dreht sich dafür nicht einmal von seinem Screen weg.
„Ich hatte da eher an den Abwasch gedacht“, versucht es Yoav mit Ironie. Im Regelfall geht sie aber an den Gehirnzellen seines Mitbewohners komplett vorbei. So auch heute. „Du wärst mal wieder dran.“
„Alles klar, Kumpel, mach‘ ich gleich morgen.“ Noch immer sind die Augen von Boyle keine Nanosekunde von seinem Laptop abgedriftet.
Sprich‘ mit meinem Rücken, kommentiert Yoav gelassen und lädt seinen Lederbeutel in seinem Zimmer ab. Boyle ist echt in Ordnung, man kann sich kaum beschweren , beschließt er zum x-ten Mal, seit er ihn kennt. Ein guter Typ mit dem Herz am richtigen Fleck und einem akzeptablen Maß an Hirn, mit dem man zuweilen anregende, ziemlich abgedrehte Diskussionen haben kann. Aber diese heftige Abneigung gegen Körperhygiene und die exzessive Schwäche für dieses Kraut sind schon eine echte Herausforderung. Yoav versucht sich zu erinnern, wie eigentlich der richtige Name seines Kumpels ist. Boyle war einfach schon immer da, bereits als er das Zimmer von der Uni zugewiesen bekommen hat, und dem Hörensagen nach gehört er so etwas wie zum Campus-Inventar, vermutlich dank eines satten Treuhandfonds oder ausnehmend toleranter Eltern, worüber er allerdings nie ein Sterbenswort verliert. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn in Yoavs Gegenwart irgendjemand schon einmal einen anderen Namen als Boyle benutzt hätte, inklusive Boyle selbst.
Der Name stammt übrigens von seinem Lieblingsbuch, wie Yoav aus erster Hand erfahren durfte. Es befindet sich unter den ausgesucht seltenen Exemplaren an richtiger, echter, gedruckter Hardware und thront in Boyles Zimmer einsam auf dem schiefen Regalbrett, stabilisiert durch ein paar geklaute Pflastersteine und geschätzte drei bis vier Wäscheklammern. „Meine Bibel“, gurrt Boyle jedes Mal verliebt, wenn er mit einem breiten Grinsen über das abgenutzte Cover streicht, auf dem die verblassten Buchstaben von T.C. Boyle zu erkennen sind.
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