Heinrich und Albrecht von Ebersberg drängten zur Eile. Sie wollten nicht länger untätig herumstehen, sie wollten dem Zwerg endlich die Gurgel durchschneiden. Trotz der Kapuzen, die die Gesichter der Brüder nahezu verhüllten, genügte dem Ritter ein Blick, um ihre Gemütslage zu erkennen.
Hass glühte in ihren Augen, unversöhnlicher Hass. Und Mordlust. Die Brüder schienen von dem Gedanken, sich für die Enthauptung ihres Bruders an dem fuldischen Abt rächen zu müssen, besessen zu sein.
Kurz rief sich Giso von Steinau das Verhalten der Brüder auf dem Spielberg unweit der Eberburg ins Gedächtnis zurück. Vor ihrem Aufbruch nach Fulda hatten Heinrich und Albrecht von Ebersberg noch darum gewürfelt, wer den klerikalen Hänfling zuerst aufschlitzen dürfe ...
Schon wollten sich die Brüder in Bewegung setzen, doch Giso von Steinau gebot ihnen Halt. Er wollte das Risiko so gering wie möglich halten. Heinrich von Ebersberg bleckte die Zähne wie ein knurrender Hund. Albrecht schien dem Ritter an die Kehle springen zu wollen.
Doch die Brüder lenkten ein. So närrisch, dass sie jetzt etwas Falsches unternahmen, waren sie nicht. Als das Gedröhn der Glocken verstummte, schritt Giso von Steinau auf das Portal der Kapelle des Heiligen Jakobus zu.
Weihrauchgeruch wallte den Landplackern entgegen, als sie das Gotteshaus betraten. Im Inneren der Kapelle herrschte Dämmerlicht. Die Messe hatte bereits begonnen.
An den Seiten des Kapellenschiffs breitete sich Unruhe aus. Dort, wo sich jene Gläubigen drängten, die auf dem Gestühl keinen Platz gefunden hatten, klangen Schimpfworte und Gezeter auf.
Hier nämlich packten unvermittelt kräftige Fäuste zu, roh, rücksichtslos. Vermummte Eindringlinge rissen und zerrten beiseite, wer ihnen im Weg stand, und schoben sich nach vorn.
Schon befanden sich Giso von Steinau und die vier ihn begleitende Ritter an der linken Raumseite in den vorderen Reihen der Versammelten. Aus dem Dämmerlicht des Chors glotzte sie die Ewige Lampe an wie ein rubinrotes Auge.
Fürstabt Bertho II. von Fulda stand nur noch ein paar Schritten von den Eindringlingen entfernt vor dem Altar und predigte mit lauter Stimme. Gerade hob er die Arme, als wolle er den himmlischen Vater umfangen.
Was dem Fürstabt an körperlichen Vorzügen fehlte, glich selbst das prächtige Pontifikalgewand nicht aus. Aber trotz seines kleinen Wuchses ging etwas Achtung gebietendes von ihm aus. Dieser Kleriker feilschte nicht um Vorrechte, sondern schuf vollendete Tatsachen. Dies hatten die buchischen Burgherren mehr als einmal schmerzhaft zu spüren bekommen.
Die Kopf an Kopf stehenden Gläubigen versperrten Giso von Steinau die Sicht zur gegenüberliegenden Raumseite. Er reckte den Hals, um von dem Geschehen dort einen Blick zu erhaschen. Wo steckten die Ebersberger?
Doch während der Ritter noch überlegte, wie er sich mit seinen Gefährten verständigen könne, um gemeinsam loszuschlagen, waren diese Überlegungen bereits hinfällig. Denn plötzlich brach drüben die Reihe der Andächtigen auseinander, als wäre ein Rammbock hineingesaust.
Zeitgleich dazu stürzten sich mehrere vermummte Gestalten auf den Fürstabt. In den vorgereckten Fäusten hielten sie Schwerter und Dolche. Im Vorschnellen glitten die Kapuzen, mit denen sie ihre Köpfe verhüllt hatten, herunter.
Der Prälat schien nicht im Geringsten überrascht zu sein. Ganz ruhig, fast demütig faltete er die Hände zum Gebet. Er wusste, dass er sterben würde, hier und jetzt. Die buchischen Landplacker umringten ihn wie Hatzrüden ein gejagtes Wild.
Eine Schwertklinge flirrte nach vorn und drang dem klein gewachsen Kleriker tief in die Brust. Blut floss aus der Wunde und besudelte das Ornat. Der nächste Stich riss ihm fast den halben Leib auf.
Drei, vier weitere Eisenklingen zerschmetterten dem Abt den Schädel. Hirnmasse, Knochen und Zähne spritzten auf den Altar. Der Prälat rutschte wie ein feucht gewordener Mehlsack in die Blutpfütze, die sich um ihn gebildet hatte.
In den Gesichtern der Gläubigen standen Fassungslosigkeit und Entsetzen. Hier geschah etwas Unerhörtes. Warum bot der Herr seinen frommen Dienern hinter den geweihten Mauern keinen Schutz? Warum gebot er den rüden Frevlern nicht Einhalt?
Schreie gellten durch den Raum. Unter den Gläubigen kam Panik auf, fluchtartig verließen sie die Kapelle. Im gleichen Augenblick setzte wolkenbruchartiger Regen über Fulda ein.
(02) Prälatenmord: Kurz nachdem Fürstabt Bertho II. am 18. März 1271 in der Fuldaer Jakobskapelle zu predigen begonnen hatte, lag er erstochen und enthauptet auf dem Boden.
Giso von Steinau stand vor Überraschung da wie angewurzelt. Im Unterbewusstsein registrierte er, dass Albrecht von Ebersberg als Erster zugestochen hatte. Neben ihm brüllte Eberhard von Spahl seine Wut hinaus und stürmte los.
Das Gebrüll seines Spießgesellen löste die Erstarrung in Giso von Steinau. Er zerrte seinen Dolch unter dem Umhang hervor ...
Die Legende behauptet, der fuldische Abt sei an diesem 18. März 1271 von 26 Stichen tödlich getroffen worden. Jeder der Heckenreiter hätte einmal zugestoßen. Diese Darstellung bagatellisiert freilich das Geschehen.
Die Wirklichkeit war grausamer. Tatsächlich wurde der fuldische Abt zerteilt wie ein Opferlamm. Zuletzt hackte man ihm den Kopf ab.
Die kaiserlose, die schreckliche Zeit
Als Kaiser Friedrich II. im Dezember 1250 in Castel Fiorentino eine Darmerkrankung hinwegraffte, hatte der Staufer das Heilige Römische Reich ( ab dem 15. Jahrhundert mit dem Zusatz Deutscher Nation ) schon nicht mehr fest in der Hand. Denn zu diesem Zeitpunkt amtierte, von den rheinischen Erzbischöfen hierzu erhoben, nördlich der Alpen mit Wilhelm von Holland bereits der zweiten Gegenkönig.
Nach der wiederholten Belegung des Stauferkaisers mit dem Kirchenbann und seiner päpstlichen Absetzung war im Mai 1246 von der kurialen Anhängerschaft zunächst der thüringische Landgraf Heinrich Raspe zum König gewählt worden. Unterstützung von den weltlichen Fürsten erhielt er nicht. Die Bevölkerung verspottete ihn als Pfaffenkönig .
Da der Thüringer im darauffolgenden Jahr freilich auf der Wartburg starb, mussten die deutschen Kirchenfürsten wiederum nach einem geeigneten Kandidaten Ausschau halten. Nach längerer Suche fanden sie diesen in Wilhelm von Holland.
So lasteten in der Mitte des 13. Jahrhunderts statt einem nun zwei deutsche Könige auf dem Reich zwischen Mittelmeer und Nordsee. Denn in Italien hielt sich ja auch noch Konrad IV. auf. Und der Sohn Friedrichs II. aus der Ehe mit Isabella von Jerusalem schien entschlossen zu sein, sich der staufischen Anhänger im Süden zu versichern und den niederrheinischen Gegenkönig in die Schranken zu verweisen.
Konrad IV. war im Übrigen durch eine Fürstenversammlung rechtmäßig zum deutschen König und künftigen Kaiser gewählt, jedoch bislang nicht gekrönt worden. Den unter päpstlichen Einfluss stehenden Gegenkönig Wilhelm von Holland hingegen hatten die Kirchfürsten zwar förmlich gekrönt, allerdings unter Verwendung imitierter Reichsinsignien ...
Tatsache blieb, dass es im Heiligen Römischen Reich zwei Bewerber gab, die sich um königliche Privilegien und Regalien balgten. Damit brach für das Land der Deutschen eine Zeit der Ungewissheit und Unsicherheit an – die Zeit des Interregnums . Friedrich Schiller kennzeichnete sie in seiner Ballade „Der Graf von Habsburg“ als „die kaiserlose, die schreckliche Zeit.“
Den Beginn des Interregnums datieren die meisten Historiker auf das Jahr 1250, dem Jahr, in dem Friedrich II. starb. Für andere beginnt dasselbe erst mit dem Tod Konrads IV. im Jahr 1254. Und noch andere gehen sogar in das Jahr 1245 zurück, in welchem Papst Innozenz IV. den Staufer Friedrich II. als Kaiser und König des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation abgesetzt hatte.
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