Nora Aschacher: Bald Alt? Na und!
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 edition a, Wien
www.edition-a.at
Lektorat: Anatol Vitouch
Cover: Kyungmi Park
Gestaltung: Susanna Barborik
Gesetzt in der Premiéra
Gedruckt in Europa
1 2 3 4 5 — 17 16 15
Print-ISBN: 978-3-99001-115-7
eBook-ISBN 978-3-99001-132-4
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
FREI! UNENDLICH FREI?
Pension: Sackgasse, Freizeitparadies, Neubeginn
Gesucht: eine neue Zeitkultur
AUFGABEN, ALTERSBILDER, ALTERNATIVEN
Aufgaben anstatt aufgeben
Altersbilder bunt wie ein Regenbogen
Auf der Suche nach AlterNativen
KUNST, KREATIVITÄT, KIRSCHBLÜTEN
Die späten Jahre als Kreativitätspool
Kunst ist Schokolade für das Gehirn
Kirschblütenzeit. Tanze Deinen Traum
SIEBENMAL HINFALLEN, ACHTMAL AUFSTEHEN
Wie aus heiterem Himmel
Der Fall nach dem Fall
Gehen kommt vor dem Fallen
Ein Lob dem Schildkrötentempo
FRÜHSTÜCK BEI DORA
Home-Sweet-Home
Alters-WG mit Henry, Hobbit und Paro
Asimo, mon amour
DER GROSSE ABSCHIED HIER UND ANDERSWO
Der sanfte, wilde Freund
Die Erfahrung des Todes ist die äußerste Stille
Im Grunde glaubt niemand an seinen eigenen Tod
ALTERN UNTER PALMEN
Reisende hält man nicht auf
Endstation Demenzresort
Altern, eine globale Herausforderung
Zu Besuch bei den mächtigen Großmüttern
WER FÜRCHTET SICH VOR …
Oldie-Bashing als neuer Volkssport
Spezialvariante: Jung gegen Alt
Annas und Hartwigs immaterielles Erbe
Ein zeitloser Generationenvertrag
FREI! UNENDLICH FREI?
Pension: Sackgasse, Freizeitparadies, Neubeginn
Es geschah beim Anflug auf Bali. Von Windböen geschüttelt, schlingerte das Flugzeug auf und ab. Die Flugbegleiter-Crew verteilte die üblichen Einreiseformulare. An sich keine große Sache. Ich hatte in der Vergangenheit schon hunderte dieser Zettel ausgefüllt. Name, Geburtsdatum, Nationalität, Beruf, Reisezweck. Als ich zur Spalte Profession kam, zögerte ich, denn ich war seit Kurzem in Pension. Aber 'Pensionistin' schreiben ging nicht, denn Pensionist ist kein Beruf, sondern ein Zustand. Ich, deren Leben jahrzehntelang weitgehend von der Arbeit geprägt war, konnte keinen Beruf mehr vorweisen. Kurz überlegte ich, doch noch Journalistin anzugeben, aber in der nächsten Zeile müsste ich meinen Arbeitgeber hinschreiben. Menschen, die in Pension sind, egal ob Lehrerin, Dachdecker, Laborleiterin, Content Manager, können keine Arbeitgeber nennen. Von den Turbulenzen bei der Landung habe ich nahezu nichts mitbekommen, weil mir zum ersten Mal seit meiner Pensionierung vor acht Monaten radikal bewusst wurde, dass ich nicht nur auf Bali sondern im Niemandsland des Ruhestandes gelandet war. Wieder zu Hause erwartete mich im Postfach der Ausweis, der meine neue Identität bestätigte. Ich war also jetzt eine gesetzlich anerkannte Pensionistin. Im Nachbarland würde man Rentnerin zu mir sagen, ein ebenso dumpfes, niederdrückendes Wort, mit dem einzigen Unterschied, dass Rentner ein Palindrom ist. Natürlich hatte ich einiges über Ältere gelesen, die aufs Abstellgleis geschoben werden, im Nichtstun-Nirwana enden oder vom Pensionsschock getroffen werden. Aber Lesen und Erleben sind unterschiedliche Erfahrungskonzepte, wie schon eine Anekdote über einen buddhistischen Meister erzählt: „Er las viel über die Sterne und wurde Astronom. Er las viel über Geschichte und wurde Lehrer. Er las viel über das Schwimmen und ertrank.“ Ich begann also, die Menschheit aus meinem neuen Blickwinkel zu betrachten. Wie ergeht es meinesgleichen, wie erleben 60-, 65-, 75-Jährige ihr Rentner-Dasein? Ich habe eine Immobilienhändlerin getroffen, die ihren Job voller Lust und Leidenschaft bis zum 80. Lebensjahr ausübte, einen Rechtsanwalt, der sich höchst widerwillig mit 67 von seiner Kanzlei trennte, eine Sekretärin, die einfach nur froh war, den immer rasanteren Arbeitsbedingungen entkommen zu sein, eine Biologin, die in der Pension Menschen im Taxi durch die Stadt fährt, eine Beamtin, die sich transzendentaler Meditation und Aromatherapie zuwandte, einen Manager, der zum Alkoholiker wurde, eine Schmuckkünstlerin, die auch noch mit 80 in ihrem Atelier steht und Metall bearbeitet. Aber es waren speziell drei Menschen, die mir mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensentwürfen die Bandbreite eines Daseins nach einem abgeschlossenen Arbeitsleben bewusst machten.
Jan ist einer davon. Der 66-jährige Pole konnte seinen letzten Arbeitstag nicht erwarten. Über 30 Jahre lang ist er in die Grube eingefahren, und es waren die letzten beiden Jahre vor der Pensionierung, die ihm körperlich schwer zu schaffen machten, erzählt mir seine Schwester Elzbieta, die in Wien verheiratet ist und eine Reinigungsfirma betreibt. Jan meldete sich mehrmals krank, aber dadurch schob sich sein Pensionsantritt immer wieder aufs Neue hinaus, denn im Kohlebergwerk galt als Regel, dass jeder Krankenstand eingearbeitet werden musste und hinten angehängt wurde. Nicht nur einmal ging Jan mit schwerer Bronchitis und Fieber zur Arbeit, wusste er doch, dass seine Krankheit ihn noch weiter vom ersehnten Pensionsantritt entfernen würde. Dann war es endlich soweit, und Jan gab ein Fest für ein paar seiner Kumpels und seine Verwandten.
In den ersten Monaten genügte es ihm, ohne Helm und Grubenlampe unter freiem Himmel hin und her zu gehen und sich bei Regen nackt in den Garten zu stellen, damit „der Kohlendreck raus kann.“ Danach wurde er unruhig, wusste nichts mit sich anzufangen, litt unter gesundheitlichen Rückfällen und war häufig beim Arzt. Es dauerte einige Zeit, bis er zu einem neuen Lebensrhythmus fand. Er hilft nun seiner Frau bei schweren Gartenarbeiten, spielt mit ehemaligen Kollegen Karten, bessert Schäden am Haus aus, übernimmt kleine Handwerksarbeiten.
Heinz kenne ich schon lange. Der heute 72-Jährige war als freiberuflicher Industriedesigner immer selbstständig gewesen. Mal gab es Aufträge, dann war wieder Flaute. Ein ewiges Auf und Ab ohne die Sicherheit eines monatlichen Einkommens, dafür aber mit freier Zeit- und Arbeitseinteilung. Als Heinz älter wurde, blieben die Aufträge mehr und mehr aus, bis er letztendlich keine Angebote mehr schreiben musste. Der Pensionsantritt bedeutete für ihn Entspannung, denn seither kommt regelmäßig jeden Monat Geld aufs Konto, auch wenn es nur eine magere gesetzliche Mindestrente ist, aber zum Glück liegt die Wohnungsmiete im unteren Bereich. An Heinz’ Lebensentwurf hat sich vor und nach der Pensionierung nicht allzu viel geändert. Er knabbert weiterhin sein Erspartes an, hält Ausschau nach Sonderangeboten, ist ausreichend beschäftigt, Gemüse und Obst als Vorräte anzulegen und die eigenen Kleidungsstücke zu reparieren. Das hat er von seiner Frau gelernt, die vor zehn Jahren gestorben ist. Theater, Konzert, Essen gehen oder Zeitungsabonnements stehen nicht am Programm. Nachrichten entnimmt er dem Internet oder den TV-Informations-Sendungen. Das Ausleihen von DVDs lässt ihn vergessen, dass er vor zehn, fünfzehn Jahren regelmäßig ins Kino gegangen ist. Eine Leidenschaft gönnt sich Heinz, die er sich durch zusätzliche Sparmaßnahmen und kleine Zusatzjobs finanziert, wie Hunde und Wohnungen betreuen. Einmal im Jahr ist er mit seinem fürs Campen eingerichteten uralten Kombi fünf Wochen in Frankreich unterwegs.
Martha, 61, lernte ich bei einem Seminar über die „Potenziale des Alters“ kennen. Sie erzählte mir, sie habe sich für einen „Golden Handshake“ entschieden. Von Seiten der Personalabteilung wurde ihr mit 58 nahegelegt, in Pension zu gehen, nicht weil die Gesundheitsmanagerin schlechte Ergebnisse lieferte, sondern weil Einsparungen gefragt waren und ältere Arbeitnehmer als Erste auf der Liste standen. Martha, die sich selbst als umtriebig beschreibt, entwarf sofort Zukunftspläne. Sie wollte nicht untätig herumsitzen, musste sich aber ein paar Monate später eingestehen, dass sie es sich leichter vorgestellt hatte, ihr Können und Wissen als Privatperson und nicht mehr als Vertreterin einer angesehenen Organisation anzubringen.
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