Es schien niemand da zu sein.
Judith wanderte durch die vertraute Wohnung und es durchströmte sie ein Glücksgefühl. Alles war an seinem Platz, alles war so vertraut. Die Sonne schien auf den großen Tisch in der Küche und sie dachte an die vielen schönen Stunden die sie zu viert hier verbracht haben.
Die einzige Veränderung war, dass an verschiedenen Stellen der Wohnung Zettel an die Wände gepinnt waren mit Notizen die sie nicht einordnen konnte wie:
Brille in der Schreibtischschublade
Hausschuhe in der Garderobe
unsere Telefonnummer …
Sie hatte gerade Kaffe aufgesetzt, als die Eltern nach Hause kamen.
Die Überraschung war ihr gelungen, die Freude über ihren Besuch war groß.
„Wir waren in der Stadt und beim Arzt.“
erzählte die Mutter, während sie, für Judiths Empfinden viel zu hastig, die Einkäufe in den Küchenschränken verstaute.
Hans Kühnen setzt sich an den Küchentisch, er sah müde, erschöpft und sehr blass aus.
Judith nahm seine Hand und sah ihn an. Sein Blick war nicht wie früher, voller Energie und Begeisterung wenn sie nach Hause kam. Er lächelte müde.
„Ich freue mich sehr, dich zu sehen, hast du denn Marion auch mitgebracht?“
Judith schaute zur Mutter, die ihrem Blick auswich und sich umständlich mit einer Milchtüte beschäftigte.
Marion war seit 3 Monaten in den USA und absolvierte dort ein Gastsemester…..
„Vater, Marion ist doch verreist, erinnerst du dich nicht?“
„ Habe ich wohl vergessen.“
Judith kam ein schrecklicher Gedanke: Demenz .
Nein, das konnte nicht möglich sein, ein Mensch, der Zeit seines Lebens Kopfarbeit geleistet hat, der immer rege und aktiv war, sollte seine Erinnerung verlieren?
Sie musste mit der Mutter alleine reden.
Sie tranken Kaffee und aßen von dem Kuchen den Judith mitgebracht hatte. Der Vater nahm mehr oder weniger am Gespräch teil aber die meiste Zeit schien er abwesend zu sein.
Am Abend ging er früh zu Bett und Judith setzte sich mit der Mutter in die Küche. Sie öffneten eine Flasche italienischen Rotwein und Judith zwang die Mutter sitzen zu bleiben.
„Sag mir, was hier los ist.“
Judith sah der Mutter in die Augen
„Seit wann ist er in diesem Zustand?“
„Kind, das ist eine Sache, die sich ins Leben einschleicht. Anfangs dachte ich, er ist einfach nur überarbeitet. Aber als er dann morgens aus dem Haus ging und nach einer halben Stunde wieder da war, weil er glaubte, er hätte seine Tasche vergessen, die er in der Hand hatte oder er mitten in der Nacht aufgestanden ist und sich gewundert hat, dass es mitten am Tag so dunkel ist, wusste ich, dass dies mit Überarbeitung nichts mehr zu tun hat.“
„Wart ihr denn beim Arzt?“
„Ja, der Hausarzt sagt, das wäre nicht aufzuhalten. Er bekommt Medikamente zur besseren Durchblutung und das war‘s dann auch.“
„Und die Uni?“
„Er ist seit Monaten krankgeschrieben, der Rentenantrag läuft.“
„Warum um Gottes Willen habt ihr mir denn nichts gesagt?“
„Er wollte das nicht, er wollte dich nicht belasten, außerdem kannst du auch nichts tun, wir müssen uns damit abfinden. Noch kommt er gut zurecht und ich muss nur leise Hilfestellungen geben.“
Judith nahm die Mutter in den Arm, die Tränen rannen ihr über die Wangen. Was hatten die beiden sich für das gemeinsame Alter alles vorgenommen, nichts davon werden sie sich mehr erfüllen können.
Judith entschloss sich über ihre beruflichen Pläne nichts zu erwähnen um die Mutter nicht noch mehr zu belasten.
Den Sonntag verbrachten Sie im Garten und der Vater war beinahe wieder wie immer.
Das machte Judith Hoffnung, dass die Krankheit vielleicht doch noch nicht so weit fortgeschritten ist.
Wieder in München angekommen setze Judith sich mit ihren Mitbewohnern zusammen um ihnen ihre Pläne zu unterbreiten.
Nach stundenlangen Diskussionen waren sich alle einig, dass es wichtig ist, das zu tun was einem ausfüllt.
Judith war froh, das Thema mit ihren Freunden besprochen zu haben und fühlte sich nun sicher, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Am nächsten Morgen eröffnete Judith den Hoffmanns, dass sie das Angebot zu einer Ausbildung gerne annehmen wolle.
„Judith, das freut mich von ganzem Herzen, Karin, mach eine Flasche Sekt auf, das müssen wir feiern. Ich hätte mir keine bessere Nachfolgerin wünschen können.“
„Nachfolgerin?“
Judith sah Herrn Hoffmann an.
„Warum Nachfolgerin? Ich fange ja gerade mal mit der Ausbildung an.“
„Judith, ich schlage vor, dass wir zum du übergehen, du weißt, dass wir keine Kinder haben und den Laden im Alter auflösen oder verkaufen müssen. Ich dachte, wenn du dabei bleibst und wirklich Freude an der Arbeit hast, dann kannst du den einmal Laden übernehmen. Was hältst du davon?“
„Nu mal langsam mit den jungen Pferden.“
Karin Hofmann legte ihrem Mann die Hand auf die Schulter
„Überrenne Judith nicht mit deinen Wunschvorstellungen. Sie soll jetzt einmal starten und der Rest wird sich ergeben.“
„Du hast wohl Recht. Warten wir ab, was die Zukunft bringt.“
Da das neue Ausbildungsjahr gerade begonnen hatte war alles schnell geregelt und Judith konnte im Oktober starten.
Auf dem Heimweg kauft Judith noch Getränke und Knabbereien ein um mit Ihren Mitbewohnern zu feiern.
Sie fühlte sich sehr leicht und gelöst und genoss den sonnigen Septembertag. Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete die Passanten die eilig von der Arbeit nach Hause strömten und fragte sich, wie viele von diesen Menschen wohl ihrer Arbeit mit Freude nachgehen. Sie war dankbar, dass sie künftig einer Arbeit nachgehen durfte die sie ausfüllte und glücklich machte.
Als sie nach Hause kam saßen die Mädchen in der Küche, Sören wollte etwas später kommen, und Judith erzählte von ihren Eltern und der Krankheit Ihres Vaters.
Für Rosalie war das Thema Demenz nicht ganz fremd, da sie eine Tante hatte, die auch betroffen war und sie gab Judith die Adresse ihrer Cousine, damit sie sich mit dieser austauschen konnte.
Judith war ihr sehr dankbar dafür und versprach gleich morgen dort anzurufen.
Zu fortgeschrittener Stunde kam Sören mit Henrik im Schlepptau nach Hause. Beide waren etwas angetrunken, sie hatten wohl eine Kneipentour gemacht.
Judith war verärgert, ausgerechnet Henrik wollte sie heute Abend eigentlich nicht dabei haben.
„Sören stellt euch vor“,
flötete Rosalie, auch nicht mehr ganz nüchtern.
„Judith hat heute den Vertrag bei Hoffmanns unterschrieben und beginnt nächsten Monat ihre Ausbildung.“
Sören freute sich aufrichtig für Judith.
„Herzlichen Glückwunsch, ich bin sicher das ist die richtige Entscheidung.“
Sören nahm Judith in den Arm und drückte sie herzlich.
Judith glaubte in Henriks Gesicht eine Spur von Spott zu sehen und ärgerte sich über sich selbst, dass sie das überhaupt wahr nahm.
„Was haltet ihr davon, wenn wir am nächsten Wochenende alle zusammen mit Henriks Boot segeln gehen?“
„Eine super Idee.“
Rosalie war sofort Feuer und Flamme.
„Ich werde seekrank“,
warf Hanne ein.
„Och wie schade, vielleicht solltest du es doch einfach versuchen, das wird bestimmt sehr lustig.“
Rosalie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass jemand eine Vergnügung, gleich welcher Art, ausschlägt.
„Aber Judith, du bist dabei, oder?“
„Keine Ahnung, ich muss mir das noch überlegen.“
Henrik legte ihr den Arm um die Schulter
„Du kannst ruhig mit, ich werde mich nicht in deiner Nähe aufhalten.“
Judith war die Situation sehr unangenehm und sie fühlte sich ertappt.
Читать дальше