„Henrik, du willst mir doch nicht erzählen, dass diese Fete nach deinem Geschmack war. Auf dem Boden zu hocken und billigen Wein zu trinken ist ja wohl nicht unbedingt deine Vorstellung von einem gelungenen Abend.“
Sie befanden sich einige Kilometer hinter der Stadtgrenze als Henrik am Straßenrand anhielt.
„ Raus, raus hier, du bornierte Kuh.“
„Henrik, du kannst mich doch hier nicht auf dem freien Feld absetzen.“
„Du hast keine Ahnung was ich alles kann, raus jetzt.“
Seine Begleiterin stieg aus dem Wagen und schlug wütend die Tür zu. Henrik fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Es war spät geworden, die letzten Gäste sind erst gegen Morgen gegangen und allen waren sich einig, es war ein gelungenes Fest.
Judith war todmüde, sie räumte die leeren Gläser, die noch in ihrem Zimmer standen weg, lüftete kurz durch und richtet eine Schlafmöglichkeit für ihre Schwester.
„Du musst mir morgen erzählen was zu Hause los ist ich habe das Gefühl, Vater ist nicht in Ordnung.“
„Judith, lass uns schlafen wir reden morgen darüber.“
Am frühen Nachmittag standen sie auf und begannen mit den Aufräumarbeiten.
Es war noch einiges an Essen und Getränke übrig und sie setzten sich in der Küche zusammen um einen gemütlichen Abend in kleiner Runde zu verbringen.
Marion wollte noch einen Tag bleiben um etwas Zeit mit Judith verbringen zu können.
Es klingelte an der Tür
„Erwarten wir noch jemanden?“
fragte Judith.
„Vielleicht Henrik, ich habe ihm gestern gesagt er könne heute nochmals vorbeischauen weil er ja so schnell gehen musste.“
Sören öffnete die Tür und tatsächlich stand Henrik mit einer Flasche Wein und einem Blumenstrauß davor.
„Hallo, darf ich reinkommen? Ich möchte mich für den plötzlichen Aufbruch von gestern entschuldigen.“
Nicht nötig
dachte Judith, eigentlich hatte sie sich auf einen Abend in der kleinen, vertrauten Runde gefreut und hatte keine Lust auf Besucher.
Sören kam mit Henrik in die Küche, stellte ihm einen Teller und ein Glas auf den Tisch und bat ihn, sich zu bedienen.
Rosalie war sichtlich begeistert von Henriks Besuch und redete ohne Punkt und Komma.
„Entschuldigt uns bitte, ich würde gerne mit Marion noch einiges besprechen.“
Judith nahm eine Flasche Wein und zwei Gläser vom Tisch und stand auf.
„Marion kommst du?“
Marion stand auf und folgte der Schwester in ihr Zimmer.
„Reagierst du nicht etwas über?“
„Ich kann dieses Gehabe heute nicht ab, der Junge ist mir zu borniert.“
„Judith, ich habe aber ganz das Gefühl, dass der nur wegen dir gekommen ist.“
„Dann hat er eben Pech gehabt……“
Sie wusste selbst nicht weshalb sie so heftig auf Henriks Besuch reagierte, sie hatte ja eigentlich überhaupt nichts mit ihm zu tun.
„Erzähl mir von zu Hause.“
„Was willst du wissen?“
„Ich hatte bei meinem letzen Besuch das Gefühl, dass mit Vater etwas nicht stimmt. Tante Marie hat auch schon so etwas angedeutet.“
„ Ich kann dir dazu nicht viel sagen. Er ist verändert und oft zerstreut, man hat zeitweise das Gefühl, er kann Unterhaltungen nicht wirklich folgen. Ich habe mit Mutter auch schon darüber gesprochen, aber sie reagiert sehr heftig und will nicht darüber reden. Sie ist der Meinung, Papa ist überarbeitet und der Unibetrieb ist nichts mehr für ihn. Sie versucht ihn davon zu überzeugen, dass er in den Vorruhestand geht.“
„War er denn schon beim Arzt?“
„Ich weiß es nicht, Mutter will darüber nicht reden.“
„Marion, wir sollten uns darum kümmern ich mach mir große Sorgen.“
„Ich denke, wenn sie das nicht wollen, können wir nicht viel tun.“
„Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du glaubst, dass wir etwas tun können.“
„Versprochen.“
Später wird Judith sich noch oft an dieses Gespräch erinnern. Sie machte sich Vorwürfe, nicht darauf bestanden zu haben, den Vater zum Arzt zu schicken.
Das Semester hat wieder begonnen und Judith stellt jeden Tag mehr fest, dass die Uni nicht ihre Welt ist. Sie verbringt sehr viel Zeit im Laden von Hoffmanns und wird ständig von ihrem schlechten Gewissen geplagt weil sie für ihr Studium zu wenig Einsatz zeigt.
Zum einen braucht sie das Geld, zum anderen macht ihr die Arbeit dort sehr viel mehr Freude als das Studium.
Sie wird von Herrn Hoffmann in der Werkstatt in die handwerkliche Arbeit eingebunden und wenn es darum geht, für Kunden spezielle Entwürfe anzufertigen, wird diese Aufgabe mehr und mehr an Judith übertragen. Diese Arbeit macht ihr viel Freude, sie kann kreativ sein und die Skizzen, die sie für die Kunden anfertigt, werden meist begeistert aufgenommen.
„Judith wie läuft es denn mit dem Studium?“
wollte Herr Hoffmann eines Tages wissen.
„Na ja, es läuft ganz gut, aber ich muss gestehen, es ist nicht meine Welt. Die Arbeit bei ihnen erfüllt mich mit einer gewissen Zufriedenheit, die ich nicht missen wollte.“
„Ich habe mir das beinahe gedacht, sie verbringen so viel Zeit hier bei uns, dass ihnen für das Studium nicht mehr viel Raum bleibt.“
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Judith, ich bin natürlich froh und dankbar für ihre Arbeit bei uns. Die Kunden sind begeistert von ihren Entwürfen und für meine Frau ist das auch ein echte Entlastung aber ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, dass sie durch die Arbeit bei uns ihr Studium vernachlässigen.“
Judith fühlte sich ertappt und musste sich eingestehen, dass Herr Hofmann recht hatte.
„Ich spiele ab und zu mit dem Gedanken, das Studium an den Nagel zu hängen, habe aber auf der anderen Seite auch keine Idee, was ich an Stelle des Studiums machen soll. Außerdem würde ich meine Eltern damit sehr enttäuschen.“
„Haben sie schon einmal darüber nachgedacht, eine Ausbildung zu machen?“
„Ich wüsste nicht in welchem Bereich.“
„In der Vergangenheit haben wir immer mal wieder junge Leute zum Goldschmied ausgebildet. Könnte ihnen das denn Freude machen?“
Judith schaute Herrn Hoffmann überrascht an, sie hatte das Gefühl, dass ihm dieser Gedanke nicht gerade erst jetzt bei diesem Gespräch gekommen ist.
„Ich denke, das wäre eine Aufgabe, die mir viel Spaß machen würde, ich möchte auf jeden Fall kreativ arbeiten können und die Arbeiten, die ich schon jetzt bei Ihnen in der Werkstatt machen darf, sind sehr interessant.“
„Denken sie darüber nach, die Tür steht ihnen immer offen, aber überstürzen sie diese Entscheidung nicht.“
Als Judith an diesem Tag den Laden verließ, war es ihr, als hätte man ihr eine große Last von den Schultern genommen.
Sie hatte in den letzten Wochen für sich längst festgestellt, dass die Arbeit bei Hoffmanns das war, was ihr wirklich lag und Freude machte.
Als sie nach Hause kam hatte Sören Besuch von Henrik. Judith hatte keine Lust auf Konversation und zog sich gleich in ihr Zimmer zurück.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch um sich die positiven und die negativen Seiten eines Studienabbruchs aufzuzeichnen.
Sie kam zu dem Schluss, dass sie für sich ihre Entscheidung zu Gunsten der Ausbildung bei Hoffmanns schon gefällt hatte.
Nur, wie brachte sie dies ihren Eltern bei? Sie entschloss sich am Wochenende nach Heidelberg zu fahren und diese Entscheidung mit ihren Eltern zu besprechen.
Sie kam am Samstag am späten Vormittag in Heidelberg an. Sie hatte sich bei den Eltern nicht angemeldet und wollte sie mit ihrem Besuch überraschen.
Als sie die Wohnung der Eltern betrat, hatte sie gleich das Gefühl, dass es nicht war wie immer. Keine Musik aus der Küche, ihre Mutter hatte immer das Radio in der Küche an um bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mitzusingen.
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