Hans Kühnens Arbeitszimmer war heilig und durfte nur betreten werden wenn man vorher anklopfte. Ein schwerer Schreibtisch stand am Fenster, mit Blick auf die Neckarwiesen. An den Wänden standen Bücherregale die vom Boden bis an die Decke reichten. In der Mitte des Raumes lag ein dicker Teppich auf dem ein großer Ohrensessel stand und „die Raucherecke“ genannt wurde, hier und nur hier durfte geraucht werden. Hans Kühnen genoss dieses Privileg und nutzte sein Arbeitszimmer als Rückzugsort wenn Annas italienisches Temperament durchschlug und in der Küche die Stimmung am Überkochen war.
Das Wohnzimmer wurde meist nur an Festtagen benutzt und war ganz nach Annas Geschmack eingerichtet. Große schwere Sessel mit Bezügen aus Gobelin, ein rechteckiger Tisch, schwere Teppiche, eine Glasvitrine mit den guten Gläsern und dem guten Geschirr sowie ein altes Klavier, auf dem Anna schon in ihrer Kindheit gespielt hatte. Auch von diesem Zimmer aus konnte man auf den Balkon und hatte Blick auf die vielen Kübelpflanzen, die Anna mit Hingabe und Liebe pflegte.
Während der Schulferien verbrachten Judith und ihr Vater viel Zeit in dem Schrebergarten, den die Eltern angemietet hatten.
Ein kleines Blockhaus bot auch an regnerischen Tagen Schutz und man vertrieb sich die Zeit mit Spielen, Lesen und Gartenarbeit.
Hans Kühnen war ein begeisterter Rosenzüchter und Judith teilte diese Begeisterung mit ihm. Bald hatte sie ihren Vater an Fachwissen eingeholt und bekam ihren eigenen Rosengarten vom Vater zugewiesen. Unter Vater und Tochter entbrannte bald ein Wettstreit wer die schönsten Rosen hatte. Judith war ihrem Vater, zu dessen Leidwesen, oft ein wenig voraus.
Anna und Judiths Schwester kümmerten sich um den Kräuter- und Gemüsegarten. Anna verstand es, aus all den herrlich frischen Dingen, die im Garten angebaut wurden, wunderbare Gerichte zu zaubern. Genau so, wie sie das von ihrer italienischen Großmutter gelernt hatte. Was nicht sofort verbraucht werden konnte, wurde entweder eingedünstet, oder getrocknet und bereicherte in den Wintermonaten den Speiseplan.
Judith erinnerte sich in späteren Jahren immer gerne an ihr Zuhause. Die Erinnerungen wurden von einem ein Gefühl der Geborgenheit und Vertrauen begleitet.
Sie hatte sich entschieden, Kunstgeschichte und Malerei zu studieren. Unter anderem hatte sie sich um einen Studienplatz in München beworben und hoffte sehr auf eine Zusage, da München die Stadt war, in der sie sich gut vorstellen konnte zu leben. Die Nähe zu den Bergen und den Seen fand sie sehr reizvoll.
Zum Wintersemester 1987 kam die Zusage aus München. Die Vorstellung, die Heimatstadt und das Elternhaus zu verlassen, machte ihr Angst. Nie war sie wirklich länger von ihrer Familie getrennt und der Gedanke nicht mehr auf die Schnelle den Rat des Vaters einholen zu können, das eine oder andere Problem mit der Mutter oder der Schwester bereden zu können, war ihr unheimlich.
Judith sollte fürs Erste bei der Schwester Ihres Vaters wohnen, die ein Haus am Stadtrand von München bewohnte.
Mitte September zog sie bei ihrer Tante ein und hatte so noch etwas Zeit um die Stadt kennen zu lernen. In den ersten Tagen ihres Aufenthaltes kümmerte sie sich um die Formalitäten, die an der Uni zu erledigen waren, besorgte sich ein Ticket für die S-Bahn und streifte durch die Stadt, besuchte Museen, Ausstellungen und verbrachte viel Zeit im Englischen Garten. Das Wetter war noch sehr schön, die Tage warm und Judith genoss es am Strand der Isar zu liegen und das Treiben der Badenden zu beobachten.
Die Tante nahm Ihre Pflichten als Aufsichtsperson sehr ernst.
„Ich habe deinem Vater versprochen auf dich aufzupassen und ich möchte mir im Bezug auf meine Aufsichtspflicht keinen Fehler erlauben.“
Judith versuchte sich anzupassen, pünktlich zu den Mahlzeiten zu Hause zu sein um keinen Unmut bei der Tante aufkommen zu lassen. Ihr war bewusst, dass diese Unterkunft ein Glück für Sie war. Sie hatte sich mit einigen anderen Studenten der Erstsemester an der Uni unterhalten die noch immer auf der Suche nach einer Unterkunft waren oder die nur für kurze Zeit eine Zusage für ein Zimmer im Studentenwohnheim hatten und dann wieder nicht wussten wohin.
Das Semester begann und Judith war damit beschäftigt sich in den Unibetrieb einzufinden.
Am Abend fiel sie todmüde ins Bett. Doch bevor sie sich in ihr Zimmer zurückziehen konnte war Abendessen mit der Tante Pflicht.
„Ich habe heute mit deinem Vater telefoniert und mache mir etwas Sorgen, er schien mir etwas abwesend und ich hatte das Gefühl, dass er dem Gespräch nicht wirklich folgen konnte. Wann hast du das letztemal mit deiner Mutter telefoniert?“
„ Vor zwei Tagen, sie hat nicht erwähnt, dass es Vater nicht gut geht. Sicher hast du dich getäuscht. Vielleicht war er nur müde.“
Sie nahm sich vor, die Mutter beim nächsten Telefonat darauf anzusprechen.
Tante Marie war Witwe und kinderlos. Ihr Bruder Hans und dessen Familie waren die einzigen Menschen die ihr nahe standen.
Nach einigen Wochen hatte Judith sich gut orientiert, nette Bekanntschaften gemacht und es stellte sich Routine ein.
Sie hatte sich mit einem Mädchen aus ihrem Semester angefreundet. Rosalie, eine Italienerin, die ihr italienisches Temperament oft nur schwer unter Kontrolle halten konnte. Sie erinnerte Judith an ihre Mutter und sie empfand gleich Sympathie für Rosalie. Sie hatte feuerrote Haare die ihr kreuz und quer vom Kopf abstanden und war unentwegt am reden.
Judith, die eher zurückhaltend war, und Rosalie ergänzten sich perfekt. Rosalie hatte ein Zimmer im Studentenwohnheim, musste da aber in den nächsten Wochen ausziehen.
„Lass uns eine WG gründen“,
lag Rosalie Judith ständig in den Ohren.
Der Gedanke war für Judith verlockend aber sie wollte ungern den Eltern finanziell mehr auf der Tasche liegen als unbedingt notwendig und die Unterkunft bei Tante Marie war kostenlos. Außerdem graute ihr vor dem Gedanken Tante Marie zu sagen sie würde ausziehen.
„Rosalie, ich weiß nicht ob es so einfach sein wird eine passende Wohnung zu finden. Vor allem Mitbewohner die zu uns passen und mit denen wir klar kommen.“
„Ach Judith sieh das Ganze doch positiv, wir haben unsere Freiheit, können kommen und gehen wann wir wollen und keiner hat uns was zu sagen.“
Ein reizvoller Gedanke, das musste Judith zugeben.
„Wir werden einen Aushang am schwarzen Brett machen und nach zwei Mitbewohnerinnen suchen. Wenn sich jemand meldet der zu uns passt machen wir den nächsten Schritt und suchen nach der passenden Wohnung. Was hältst du davon?“
„ In Ordnung, wir werden es versuchen aber lass uns das in Ruhe angehen und nichts überstürzen, versprich mir das.“
Rosalie nahm Judith lachend in den Arm
„Keine Angst ich werde dich nicht überrumpeln.“
Die Resonanz auf ihren Aushang war groß aber sie konnten sich nicht wirklich für eine der Bewerberinnen entscheiden.
Kurz vor Semesterende, Judith saß gerade mit einer Tasse Tee in der Mensa und las sich das Skript der letzten Vorlesung nochmals durch, kam Rosalie mit einem jungen Mann an den Tisch.
„Judith, darf ich dir unseren künftigen Mitbewohner vorstellen?“
Judith musste trotz aller Überraschung lachen. Da stand Rosalie mitten in der Mensa, die Haare standen wirr vom Kopf und an der Hand hatte sie einen jungen Mann der von den Ereignissen wohl auch etwas überrollt wurde.
Sören Kippar, ein junger Schwede mit blondem Haar, das ihm, ähnlich wie Rosalies Haar, wild vom Kopf stand.
Judith hatte ihn schon einige Male auf dem Unigelände gesehen und fand ihn ganz sympathisch.
„Hallo Sören, hat Rosalie dir denn schon erzählt wie wir das ganze angehen wollen?“
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