Beinah hätte sie sich sofort gegen dieses Versprechen aufgelehnt und geantwortet: »Schicken lasse ich mich nicht! Dann gehe ich lieber gleich zu meinen Eltern,« – da war es wieder Lucies warnendes Beispiel, das diese böse Antwort von ihren Lippen scheuchte.
Zögernd und noch immer schluchzend ergriff sie des Fräuleins Hand. »Nie – wieder!« stammelte sie.
Und Fräulein Raimar war von der Wahrheit ihres Versprechens überzeugt und hatte beinah Mitleid mit der Reumütigen. »Nun geh’ und beruhige dich,« sagte sie in mildem Tone, »und sehe ich, daß du dich besserst, wird der heutige Tag von mir vergessen sein. –«
Als Ilse die Treppe zu ihrem Zimmer wieder hinaufstieg, fühlte sie sich leicht wie nie im Leben, es war ihr so frei und froh in der Brust, niemals hatte sie eine ähnliche Empfindung gekannt. Es war das Bewußtsein, sich selbst überwunden zu haben. –
Der Juli und August waren vorüber und man befand sich in den ersten Tagen des September. Ilse hatte sich mehr und mehr in das Pensionsleben eingelebt und fühlte sich längst keine Fremde mehr. An vieles, das ihr anfangs unmöglich erschien, hatte sie sich gewöhnt, ja gewöhnen müssen. Wie hätte sie auch vermocht, sich gegen das einmal Bestehende aufzulehnen! Das frühe Aufstehen, das regelmäßige Arbeiten, die Ordnung und Pünktlichkeit, die streng innegehalten wurden, – schwer genug hatte sie sich in all diese Dinge gefunden, und wer weiß, ob sie es überhaupt je getan hätte, wenn Nellie nicht wie ein guter Geist ihr stets zur Seite gestanden hätte. Mit ihrer fröhlichen Laune half sie der Freundin über manche Schwierigkeit hinweg und oft verstand sie es, durch ein Wort, ja durch einen Blick dieselbe zu zügeln, wenn sich die alte Heftigkeit melden wollte.
Eine heftige Szene hatte sie übrigens nicht wieder herbeigeführt. Fräulein Güssows Erzählung war auf fruchtbaren Boden gefallen und hatte ihren trotzigen Sinn etwas nachgiebiger gemacht.
Über ihre Fortschritte und Fähigkeiten herrschte unter ihren Lehrern und Lehrerinnen eine sehr verschiedene Ansicht, wie dieses in der letzten Konferenz recht deutlich zu Tage trat. Der Rechenlehrer und der Lehrer der Naturgeschichte behaupteten, daß Ilse ohne jede Begabung sei, daß sie weder Gedächtnis, noch Lust am Lernen besitze. Andere waren vom Gegenteile überzeugt. Fräulein Güssow, die in der Litteratur und Doktor Althoff, der Deutsch, Geschichte und in der französischen Litteratur unterrichtete, waren in jeder Beziehung mit Ilses Kenntnissen und ihren Fortschritten zufrieden. Professor Schneider lobte ganz besonders ihren Fleiß und ihre Ausdauer, die sie bei ihm entwickle, und erklärte mit aller Entschiedenheit, wenn Ilse so fortfahre, würde sie es mit ihrem Talente weit bringen, sie habe in den acht Wochen, in denen sie seine Schülerin sei, so große Fortschritte im Zeichnen gemacht, wie nie eine andere zuvor.
Über dieses Lob geriet Monsieur Michael in Entzücken. Ja er vergaß sich in seiner lebhaften Freude so weit, daß er ausrief; »Bravo, Monsieur Schneider! So spreche auch ich, sie ist eine hochbegabte, eine entzückende, junge Mademoiselle.«
Fräulein Raimar lächelte über diese Ekstase und erkundigte sich nach Ilses Betragen.
Da kam denn leider manches bedenkliche Kopfschütteln an den Tag. Besonders wurde von einigen sehr gerügt, daß sie bei dem geringsten Tadel eine trotzige Miene mache, daß sie sogar mehrmals gewagt habe, zu widersprechen.
»Leider, leider ist dem so,« bestätigte die Vorsteherin, »und ich habe nicht den Mut, zu glauben, daß wir sie ändern können. Ich fürchte sogar, daß ihr zügelloser Sinn uns eines Tages eine ähnliche Szene, wie die bereits erlebte, machen wird, und was geschieht dann?«
»Dann geben wir sie den Eltern zurück,« fiel Miß Lead lebhaft ein. »Ich glaube, daß es dahin kommen wird. Ilse ist nicht nur verzogen, sie ist – wie soll ich sagen – sehr bäurisch, sehr brutal, sie paßt nicht in unsre Pension.«
Doktor Althoff warf der Engländerin einen etwas ironisch lächelnden Blick zu, als wollte er sagen: Du freilich mit deinen übertriebenen, strengen Formen hast kein Verständnis für das junge, frische Wesen mit seinem natürlichen Sinn – »Ich glaube, Sie irren, meine Damen,« wandte er ein, »in unsrer kleinen Ilse steckt ein tüchtiger Kern. Lassen Sie nur erst die etwas rauhe Schale sich von demselben abgestoßen haben und Sie werden sehen, in welch ein liebenswürdiges, natürliches, echt weibliches Wesen sich die bäurische, ›brutale Ilse‹,« er betonte die letzten Worte etwas stark, »verwandeln wird. Von der Natur ist sie dazu beanlagt, glauben Sie mir. Man muß nur nicht von der kurzen Zeit, die sie bei uns verweilt, gar zu viel verlangen.«
Miß Lead zuckte die Achseln und machte eine abweisende Miene. Fräulein Güssow dagegen sah Doktor Althoff dankbar an.
»Das sage ich mit Ihnen, Herr Doktor!« stimmte sie bei. »Wir müssen Geduld haben mit unsrem wilden Vogel, der bis jetzt nur die Freiheit kannte. Fehler, die durch jahrelange, allzunachsichtige Erziehung in dem Kinde groß gezogen wurden, können unmöglich in wenigen Wochen vollständig abgestreift sein. Mir scheint, daß wir schon viel erreicht haben, wenn wir daran denken, wie wenig Arbeitstrieb Ilse mit in die Pension brachte und wie sie jetzt gewissenhaft und sogar in manchen Fächern ihre Aufgaben sehr trefflich anfertigt.«
Fräulein Güssows Behauptung war vollständig berechtigt. Ilse war weit strebsamer geworden, das gute Beispiel der übrigen Mädchen spornte sie mächtig an.
Anfangs war es ihr gleichgültig gewesen, ob man sie in die erste oder zweite Klasse brachte, als sie indes die Bemerkung machte, daß alle ihre Mitschülerinnen jünger waren, als sie, da erwachte der Ehrgeiz und zugleich ein Eifer in ihr, der sie antrieb, das Versäumte nachzuholen, zu lernen und zu arbeiten, damit sie bald in die erste Klasse komme.
Ihre Aufsätze besserten sich mit jedem Mal, auch nahm sie sich sehr zusammen, keine orthographischen Schnitzer mehr zu machen. Sie hatte allen Respekt vor Doktor Althoff, der stets mit einem leichten Spott dergleichen Fehler zu rügen wußte.
Ihr letzter Aufsatz war der beste in der Klasse gewesen. »Ein Spaziergang durch den Wald« hieß das gegebene Thema und sie hatte ihre Aufgabe in anmutiger und lebendiger Weise gelöst. Sie wurde dafür gelobt, und Doktor Althoff las ihren Aufsatz der Klasse vor, was stets als eine besondere Auszeichnung galt. Mitten im Lesen unterbrach er sich lachend.
»Da ist Ihnen ein ganz abscheulicher Irrtum passiert, Ilse,« sagte er, »denn ich kann mir kaum denken, daß Sie wirklich dachten, was Sie hier niederschreiben.«
Und er trat zu ihr und zeigte ihr die verhängnisvolle Stelle, die also lautete:
»Ich war eine gans, tüchtige Strecke allein gegangen.« – Sie errötete, nahm schnell eine Feder und machte aus dem s ein z.
»Ein anderes Mal sehen Sie sich besser vor, solche Verwechselungen können höchst komisch wirken. Auch mit den Kommas, Punkten u. s. w., rate ich Ihnen weniger verschwenderisch umzugehen, oder haben Sie die Absicht, es wie jene junge Dame zu machen, die, sobald sie eine Seite zu Ende geschrieben hatte, ganz willkürlich die Zeichen hineinsetzte. Etwa zehn Kommas, sieben Ausrufungszeichen, fünf Fragezeichen und neun Punkte, wie sie gerade Lust hatte, manchmal mehr, manchmal weniger. Das gab dann zuweilen einen tollen Sinn, Sie können es sich denken.«
Die Mädchen lachten und Ilse mit. Ohne jede Empfindlichkeit nahm sie eine Rüge von diesem Lehrer auf, der es verstand, stets die richtige Art und Weise zu treffen. Mit liebenswürdigem Humor, in welchen er einen ernsten Tadel oftmals kleidete, richtete er weit mehr aus, wie mancher andere, der in der Aufregung sich zu zornigen Worten hinreißen ließ.
Aber wie schwärmten auch seine Schülerinnen für ihn! In jeder Mädchenschule gibt es gewiß einen Lehrer, der zum allgemeinen Liebling erkoren wird, in dem Institute des Fräulein Raimar hatte Doktor Althoff das Los getroffen.
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