Wexmell ahnte bereits seit geraumer Zeit, dass Melecay die Wahrheit erfahren hatte. Es war die Art, wie er Desiderius ansah, wie er versuchte, von ihm zu lernen, wie er seine Nähe gesucht hatte. Umso mitfühlender betrachtete er jetzt den jungen Mann. »Wir sind die letzten Freiheitskämpfer in einer versklavten und von Vorurteilen geplagten Welt, Großkönig. Es ist sogar unsere Pflicht, zusammen zu stehen. Wir sind vertragliche Verbündete und darüber hinaus enge Freunde. Familie. Nichts und niemand wird mich von meinen Verpflichtungen Euch gegenüber abhalten.«
Zum ersten Mal seit ihrer Abreise atmete Melecay entspannt durch, seine kräftigen Schultern sackten unter dem schwarzen Mantel ein Stück hinab. »Ich danke Euch, meine Ohren mussten es hören, obwohl mein Herz es bereits wusste. Die letzten Tage plagten mich grausige Vorstellungen davon, wie der Kaiser Euch ein Bündnis anbietet, eine Armee und Friedensabkommen, und das Ihr es annehmt.«
»Melecay«, seufzte Wexmell schwer, »ich verstehe Eure Sorgen, doch hinterlistig war ich bisher noch nie. Auch wenn wir oft verschiedener Moralansichten sind, und ich Eure Vorgehensweise im Kampf oft missbillige, so seid Ihr mir doch ein besserer Verbündeter als der Kaiser. Ihr und ich verabscheuen die Sklaverei. Wir beide stimmen doch zumindest darüber ein, dass jeder Mann das Recht darauf hat, frei zu sein. Der Kaiser will Nohva schon lange, er würde mir alles versprechen, um es zu bekommen, doch würde ich in seiner Schuld stehen, wäre Nohva nur ein Vasallenstaat. Was würde aus meinen Völkern werden? Sklaven? Das kann ich nicht zulassen.«
Melecay lächelte schwach, jedoch beruhigt.
»Ihr seht also, dass es immer ein Unterschied ist, wem man etwas schuldig bleibt. Gegenüber Bellzazar trage ich die gleiche Schuld wie Ihr, auch er rettete mein Leben, gab mir eine zweite Chance, doch er hat nie etwas dafür von mir zurückverlangt.«
Gedankenverloren starrte Melecay vor sich hin, er rieb langsam die Hände aneinander, als wolle er seine Finger wärmen. Er hauchte zu sich selbst: »Ich fürchte nur, er hat von mir etwas für mein Leben verlangt. Und ich habe es ihm gegeben.«
Wexmell runzelte neugierig die Stirn.
Besorgt sah ihn Melecay an. »Er rettete mein Leben, weil er wollte, dass ich den Thron besteige. Er sagte zu mir, vielleicht würde das nicht nur mich, sondern auch ihn retten. Und hier bin ich: König von Carapuhr …«
Lange sahen sie sich in die Augen, tauschten Sorgen und große Zweifel ohne jede Worte miteinander aus.
Bis Wexmell schließlich die Augen schloss und gefasst ausatmete. »Es war nie möglich, Bellzazars Absichten zu durchschauen, doch ich habe nie daran geglaubt, dass er je etwas durchweg Schreckliches mit uns vorhatte.«
»Nicht mit uns«, wandte Melecay ein, »mit der Welt, wie wir sie kennen.«
»Kann es denn noch schlimmer kommen?«, fragte Wexmell. Er hatte einen Scherz machen wollen, um die Stimmung aufzuhellen, doch er klang viel zu zynisch. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Trauer seine Worte nicht mehr beeinflusste.
Melecay zuckte mit den Achseln. »Sucht ihn einfach nicht, dann müssen wir uns vielleicht nie wieder mit derlei Sorgen rumschlagen. Ihr habt Wichtigeres zu erledigen. Obwohl ich gestehen muss, es reizt mich jeden Tag mehr, selbst die Kaiserkrone zu tragen.«
»Ich halte Euch nicht auf«, sagte Wexmell mit einem Schmunzeln. Er war nie Machthungrig gewesen. Alles, was er wollte, war die Kriege zu beenden, die Elkanasai heraufbeschwört, ehe sie Nohva erreichten.
Melecay schüttelte den Kopf, doch man sah ihm an, wie schwer ihm das Ablehnen fiel. »Nein«, sagte er entschlossen, »ich sehe mich auf Carapuhrs Thron. Außerdem hatte Euer Schurke Recht, Elkanasai würde mich nie akzeptieren. Davon abgesehen hasse ich diese Hitze. So sehr ich die Vorstellung auch mag, der Herrscher der größten Nation unserer bekannten Welt zu werden, weiß ich um meine Schwächen. Sie würden mich noch im ersten Jahr umbringen lassen, weil mein Hass auf sie, mich zu einem Tyrannen machen würde. Wir brauchen Stabilität, eine sichere Grenze, damit Carapuhr wieder erblühen kann. Auch wenn mir die Leben anderer recht wenig bedeuten mögen, meine Liebe zu meinem Land stand stets außer Zweifel. Carapuhr ist mir wichtiger als jede noch so mächtige Krone. Deshalb war ich auch erleichtert, dass Ihr von den Toten auferstanden seid. Ihr habt mich vermutlich, ohne es zu wollen, mit Eurem Überleben aufgehalten, die Welt zu erobern. Es ist besser so, auch wenn der dunkle Teil in mir nach so viel mehr verlangt. Carapuhr und mein Volk braucht mich, um zu überleben. Meine eigenen Wünsche sind jetzt nicht mehr von Belang.«
»Hört, hört.« Wexmell lächelte, stolz auf Melecays Einsicht. Er lehnte sich nach vorne und legte dem Großkönig eine Hand auf die Schulter. »Worte, gesprochen von einem wahren König.«
Melecay kämpfte mit einem glücklichen Lächeln, das derart niedlich wirkte, dass es einen harten Kontrast zu seiner imposanten, eiskalten Erscheinung darstellte. Jetzt strahlte wieder der Junge aus ihm heraus, der er nie hatte sein dürfen.
Wexmell bereute in solchen Augenblicken, dass sie Melecay nicht schon Jahre früher gefunden hatten. Doch wie alle anderen hatten sie ihn für tot gehalten. Der Junge Prinz war von seinem Schamanen lange Zeit erfolgreich versteckt und beschützt worden. Trotzdem fragte Wexmell sich stets, welcher Mann aus Melecay geworden wäre, hätten sie ihn als Jungen gefunden und beschützen können.
»Welch düstere Gespräche.« Melecay lachte plötzlich dreckig auf und schlug Wexmell gegen den Arm. »Dabei kam ich nicht zum Reden herein.« Ein lüsterner Blick schwenkte auf Daintys schlafenden Leib.
Wexmell verstand den Wink. »Ich lasse Euch allein.«
»Das müsst Ihr nicht«, lachte Melecay.
Als Wexmell vom Trittbrett sprang, landeten seine Stiefel in einer Pfütze. Der Regen hatte so abrupt aufgehört wie er angefangen hatte, die Sonne strahlte durch die abziehenden Wolken und brannte auf seiner von langen Jahren im Eisland blassen Haut nieder. Die schwüle Hitze sammelte sich auf der Straße. Die mannshohen Gräßer der Wiesen kesselten sie ein und wirkten wie Ofenwände, zwischen denen sie langsam gegart wurden.
Immerhin blieben sie so vor neugierigen Blicken verborgen. Bisher waren sie noch keiner Seele begegnet, seit sie die Grenze überquert hatten. Hoffentlich blieb ihnen das Glück hold.
Kaum schlug die Tür hinter ihm zu, warf der zottelhaarige Kutscher einen Blick nach hinten. Die trabenden Pferde wurden gezügelt, damit Wexmell Karic hinter der Kutsche losbinden konnte. Dann ging es im leichten Trab weiter.
Wexmell stieg auf und ritt nach vorne zum Kutscher, blickte zu ihm hinauf. »Wie schaut`s aus?«
»Alles ruhig«, versicherte Allahad. Neben ihm saß Karrah und schlief tief und fest. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, ihre violetten Wellen ergossen sich über seinen Arm.
»Pass auf, dass sie genug trinkt und isst«, trug Wexmell besorgt auf. Er würde nie eine Frau in ihr sehen können. Genau wie für Desiderius, blieb sie auch für ihn immer ihr kleines Mädchen. Doch für andere war sie eine mächtige, eigenwillige Hexe. Aber auch die mussten regelmäßig essen.
Allahad nickte. Mit starrem Blick nach vorne fragte er: »Wird die Kutsche gleich wieder wackeln, sodass ich befürchten muss, vom Weg abzukommen?«
»Du wirst ein wenig gegenlenken müssen.«
»Entzückend.«
Mit einem amüsierten Schnauben trieb Wexmell Karic an, um die Kutsche und drei weitere Reiter zu überholen. Janek, Lazlo und Iwanka nickten ihm stumm zu, ihre Gesichter waren wachsam und professionell, keine Spur von Müdigkeit. Das hätte Melecay nicht erlaubt.
Er ritt kaum einen Augenblick an der Spitze, als durch die hohen Gräßer bereits ein Späher heran galoppierte. Luro lenkte seinen dunkelbraunen Hengst direkt neben Wexmell.
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