Was hätte er während der langen Reise auch sonst tun sollen? Er musste sich davon ablenken, an all jene zu denken, die er verloren hatte. Allmählich verstand er mehr denn je Großkönig Melecays verzweifelte Wut auf alles und jeden, und seinen unbeirrbaren Wunsch, jeden Feind sofort zu töten. Und das machte Wexmell Angst. Er wollte niemals seine Prinzipien verlieren, ganz gleich wie übel das Schicksal ihm auch mitspielte.
Schwere Hufe trabten über die schnell aufgeweichte Straße heran, Regenwasser platschte, als Getrampel durch schnell anschwellende Pfützen zog. Wexmell hörte Zügel klimpern und Leder knirschen, als ein großer Reiter von seinem ebenso großen Ross hinabstieg und die schweren Stiefel auf das Trittbrett stellte. Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann stieg in die Kutsche, er ließ sich mit tropfnassen Kleidern und Haar neben Dainty nieder und sperrte das Unwetter aus, indem er eilig die Tür schloss.
Wexmell lächelte ihn über die Buchkante hinweg an. »Ist das Schweiß oder Regen, das Euer Gesicht nass macht, Großkönig Melecay?«
Melecay verzog missgelaunt das Gesicht und strich sich die Wassertropfen von der markanten Stirn. »Eine schreckliche Mischung aus beidem. Ich sah das Unwetter auf uns zu kommen und hoffte, es würde uns abkühlen, jetzt ist es jedoch noch schlimmer. Seit wann klebt Regen so? Seit wann sind Stürme so heiß?«
Sie waren noch nicht einmal in den Regenwäldern und schon litt Melecay unter der Hitze. Als geborener Carapuhrianer besaß der Großkönig eine angeborene dicke Haut gegen die Kälte in seinem Land, die ihm jetzt jedoch das Leben schwermachte. Was die Natur ihm einst schenkte, um zu überleben, zwang ihn nun fast in die Knie. Und in den nächsten Wochen würde es bestimmt nicht milder werden, im Gegenteil. Sie konnten letztlich nur hoffen, dass sich Melecays Körper schnell an das Wetter gewöhnte.
Aber nicht nur Carapuhrs Großkönig litt, auch Wexmell und seine Freunde würden sich erst einmal an das Wetter gewöhnen müssen. Die Hitze zerrte an ihnen wie ein Tornado an einem brüchigen Zweig. Nur Dainty und sein Bruder Janek, die in diesem Klima aufgewachsen waren, hatten keinerlei wetterbedingte Probleme, sie schwitzten auch nicht so stark wie alle anderen. Die Brüder waren nun durch ihre Herkunft im Vorteil. Außerdem waren sie die einzigen, die die Sprache fließend sprechen konnten und sich mit allerlei Sitten auskannten. Auch Wexmell war der Sprache der Elkanasai mächtig, jedoch strauchelte er gelegentlich, davon abgesehen vermieden die Elkanasai Kontakt zu allen Fremdlingen mit runden Ohren. Ohne Dainty und Janek hätten sie diese Unternehmung überhaupt nicht antreten können, die Brüder waren zunächst ihre einzige Chance, hier zu überleben. Im Regenwald würden sie sich auf ihre Kenntnisse verlassen müssen, ebenso in den Städten.
Während Wexmell las, spürte er Melecays durchdringenden Blick auf sich, doch er ließ sich durch die blauen Augen nicht ablenken. Während andere durch Melecays bloße Blicke meist schon in Panik gerieten, erreichten sie Wexmell selten. Er kannte den Großkönig, vom ersten Augenblick an hatte er die tief verletzte und verängstigte Seele hinter all der Wut und der Grausamkeit erkannt. Doch dies war nicht der einzige Grund, weshalb Wexmell gegen all seine Prinzipien verstoßen hatte, um ihn zu schützen.
Wexmell war nicht halb so dumm wie Bellzazar glaubte. Auch wenn er sich all die Zeit ahnungslos gegeben hatte, er würde die tief verwurzelte Stärke hinter jedem Blick immer erkennen. Es war für ihn immer offensichtlich gewesen, wer Melecay war, wessen Blut durch seine Adern floss. Trotz heller Augen und hellem Haar, war seine Statur, sein Stolz, seine Sturheit und seine innere Stärke – sein wahnwitziger Mut – nur mit der eines anderen großen Mannes vergleichbar.
Für Wexmell war stets offensichtlich gewesen, wessen Sohn Melecay wirklich war.
Doch er konnte und würde nie offenbaren, welch Geheimnis er hütete, denn er selbst trug Schuld daran. Er hatte es nicht über sich gebracht, seinen Fehler einzugestehen, weil er die Konsequenzen für sich gefürchtet hatte. Er hatte sich einst von Bellzazar manipulieren lassen, das musste er zugeben, doch obwohl er kein Feigling sein wollte und ihm Ehrlichkeit wichtig war, hatte er jenes Geheimnis mit ins Grab nehmen wollen. Nun blieb ihm ohnehin keine Gelegenheit mehr, reinen Tisch zu machen.
Außerdem würde Melecay sein Recht auf Carapuhrs Krone verlieren, und das wollte Wexmell dem jungen Mann nicht antun. Die Krone Carapuhrs schien neben Dainty das einzige zu sein, das ihn besänftigen konnte. Es wäre klüger, diesen tollwütigen Wolf nicht zu reizen. Aber sollte es nicht anders gehen, würde Wexmell nicht zögern, Melecay an seinen Platz zu verweisen. Bei dieser Unternehmung behielt Wexmell die oberste Befehlsstufe, denn er wollte nicht, dass noch mehr Blut vergossen wurde.
»Ihr solltet nicht nach ihm suchen.«
Melecays Stimme riss Wexmell aus seinen trüben Gedanken. Er blickte auf und rang sich ein mattes Lächeln ab. »Ich muss.«
Frustrierend seufzend lehnte Melecay sich zurück. »Ich muss gestehen, mir wäre wohler, ihn nie wieder zu sehen. Der Anblick des Dämons erinnerte mich stets daran, was ich ihm schuldig bin.« Er knirschte verdrossen mit den Zähnen. »Und das gefällt mir nicht.«
Mit einem nachsichtigen Lächeln klappte Wexmell das Buch zu. »Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn wir in der Schuld anderer stehen. Es bedeutet lediglich, dass wir Freunde und Verbündete haben, wegen denen wir nie alleine dastehen.«
Melecays Lippen kräuselten sich, als hätte er Dung gerochen. »Es bedeutet, auf andere angewiesen zu sein. Es bedeutet, sich auf den Schultern anderer auszuruhen.«
»Dann haltet Ihr mich für schwach und angreifbar, weil ich in dieser Sache Eure Hilfe benötige?«, fragte Wexmell. Er klang weder verärgert noch überheblich, allenfalls ein wenig tadelnd, aber überwiegend neugierig. »Oder haltet Ihr Euch selbst für zu schwach, weil Ihr in dieser Situation meine Hilfe benötigt?«
Melecay starrte in den leeren Raum zwischen ihnen, seine Kiefer mahlten, wie die eines kleinen Jungen, der ausgeschimpft wurde, der aber keinerlei Reue empfand.
»Wir brauchen einander«, sprach Wexmell auf ihn ein, »ich brauche Euch ebenso sehr wie Ihr mich. Ihr habt nie durchblicken lassen, dass es Euch stört. Warum stört es Euch bei anderen?«
»Bei Euch ist es etwas anderes.« Melecay verschränkte die Arme vor der Brust und blickte trotzig durch den schmalen Spalt der Vorhänge nach draußen. »Ihr seid … reinen Herzens. Ihr seid vermutlich der einzige Mann in dieser und jeder anderen Welt, dem ich ohne Zweifel vertrauen kann. Gelegentlich halte ich Eure Ansichten für sehr naiv, oft haben wir Diskussionen über Richtig und Falsch, und doch habt Ihr immer zu mir gestanden.« Plötzlich sah er Wexmell wieder voller Entschlossenheit an. »Ich vertraue Euch mehr, als jedem anderen, weil er Euch geliebt hat.«
Wexmell senkte mit einem dicken Kloß im Hals ein Stück den Kopf, Tränen stiegen ihm in die Augen, als ihn die Endgültigkeit des Todes wieder einholte. Von nun an hieß es nur noch, Desiderius hatte ihn geliebt. Vergangenheitsform.
»Vergebung.« Auch Melecay ließ den Kopf hängen, er rieb sich den kräftigen Nacken, bis er rot wurde. »Es gibt Dinge, die ich Euch schwerlich erklären kann, weil ich als König derart viele Geheimnisse hüte, dass ich gelegentlich den Überblick verliere, nur damit ich die Krone behalte; damit ich mein Volk und mein Land vor Feinden schützen kann. Wisset aber, dass Ihr mir am Herzen liegt, und der Grund dafür war nicht ausschließlich Desiderius. Trotzdem habt Ihr durch ihn einen hohen Status bei mir erreicht. Er und ich … waren auch nicht immer einer Meinung, aber doch vom gleichen Schlag. Das ist alles, was ich Euch sagen kann und darf. Er versprach mir einst, dass Ihr und er immer auf meiner Seite stehen würdet, wenn ich bereit bin, Euch die gleiche Loyalität entgegen zu bringen. Er … bedeutete mir viel.«
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