Der Offizier blickte ungehalten. „Sonderwünsche gibt es nicht“, erklärte er streng, „Sie sind groß gewachsen und Abiturient. Für den Wachdienst des Präsidenten werden intelligente junge Männer benötigt. Sie sind dort an der richtigen Stelle.“
Am folgenden Tage meldete sich Niki auf dem Domberg zum Dienstantritt. Im dunklen Vorraum eines älteren Gebäudes der Stadt Tallinn saß ein mürrischer Unteroffizier an seinem Schreibtisch, der Niki beim Eintreten gar nicht zu Wort kommen ließ. Ohne ein Wort zu verlieren, deutete er auf einen vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl und vertiefte sich weiter in die vor ihm liegende Akte. Er war wohl die Ordonnanz vom Dienst .
Das ungemütliche Schweigen dauerte fast eine Stunde, bis endlich ein Feldwebel den Raum betrat. „Kommen Sie“, winkte er Niki und geleitete ihn in einen großen Raum, durch dessen Fenster gleißendes Sonnenlicht fiel. An den Wänden des Zimmers hingen Landkarten und an der Frontseite stand eine Tafel, auf der Papiere und Zettel befestigt waren. Zur Mitte hin saß ein beleibter Hauptmann, neben dem ein junger Leutnant Platz genommen hatte. Davon etwas abgesetzt hatte sich der Feldwebel niedergelassen, der ihn hereingeführt hatte.
„Wie ist Ihr Name?“, begann der Hauptmann kurz angebunden.
„Nikolaus Bisdorff.“
„Ach ja, Sie sind das“, meinte der Offizier. „Wie ich höre, haben Sie bereits einen Antrag auf Versetzung gestellt.“
„Ja, gewiss“, bestätigte Niki überrascht. Zumindest war sein Wunsch weitergeleitet worden.
„Was haben Sie gegen den Dienst im Wachbataillon? Sie haben dort ja noch gar nicht angefangen!“, forschte der Hauptmann brummig und beugte sich auf seinem Stuhl vor.
„Ich möchte Medizin studieren und könnte ... “
„Als estnischer Staatsbürger leisten Sie hier Ihren Militärdienst ab“, unterbrach ihn der Offizier grob, „wo kämen wir hin, wenn jeder nach seinem Gusto einsetzt werden möchte. Im Moment brauchen wir Leute für das Wachbataillon und keine Sanitäter!“
Niki erschrak über die Ungehaltenheit des Offiziers.
„Möchten Sie sich vielleicht dem Dienst im Wachbataillon entziehen?“, mischte sich der Leutnant ins Gespräch. „Normalerweise ist es für jeden Soldaten eine Auszeichnung, in dieser Eliteeinheit Dienst zu tun. Dass Sie sich dieser Aufgabe nicht mit Freude stellen, erscheint seltsam!“
Das Gespräch wurde mit jedem Satz unangenehmer.
„Ich bin mir dieser Ehre durchaus bewusst, Herr Leutnant“, versicherte Niki.
„Nun, dann ist ja alles in Ordnung“, grummelte der Hauptmann, schien aber von Nikis Worten wenig überzeugt.
„Wir werden dafür sorgen, dass Herrn Bisdorff der Dienst im Wachbataillon nicht langweilig wird“, meinte der Leutnant süffisant lächelnd, beugte sich zu dem Feldwebel und flüsterte ihm einige Sätze ins Ohr.
Das Wachbataillon des Präsidenten der Republik rekrutierte sich vorwiegend aus jungen Esten, die in aller Regel bäuerlichen Familien entstammten. Aber es gab auch Ausnahmen. Neben Niki zählten ein ebenfalls deutschstämmiger Abiturient, Alfons Geisheimer, sowie ein eingebürgerter Russe, Boris Storoschenko, zu dessen Mitgliedern. Storoschenko hatte wie Niki die deutsche Schule in Pernau besucht und war danach bei einem jüdischen Uhrmacher in die Lehre gegangen.
Die beiden deutschen Abiturienten und auch Storoschenko wurden allgemein als die Elite der Wachmannschaft angesehen. Es war aber nicht nur die höhere Schulbildung, die sie aus dem Kreis ihrer Kameraden heraushob. Geisheimer besaß eine künstlerische Ader und das Talent, Wohnungen kunstvoll herzurichten und auszustatten. Die von ihm verschönerten Räume erstrahlten danach in einem bislang unbekannten Glanz. Storoschenko hatte das handwerkliche Können Uhren wieder instand zu setzen. Wurden keine Ersatzteile benötigt, erfolgten die Arbeiten kostenlos. Das Können der beiden sprach sich herum und es dauerte nicht lange, bis nicht nur die Leitung des Wachbataillons von ihrem Können profitieren wollte.
Nikis Qualitäten lagen dagegen mehr auf verbalem Gebiet. Sein Hang, zu allem etwas sagen zu wollen, trübte aber schon bald sein Verhältnis zu den Vorgesetzten. Dagegen war er bei seinen Kameraden beliebt und avancierte bald zu deren Wortführer.
Der Dienst im Wachbataillon unterschied sich wohltuend vom Kommissleben der estnischen Armee. Die Verpflegung der Wachsoldaten war qualitativ besser und neben den täglichen Essensrationen gab es Bohnenkaffee und Weizenbrot.
Wegen ihrer Repräsentationspflichten wurde auf das Erscheinungsbild der Wachsoldaten besonderen Wert gelegt. So verzichtete man darauf, ihnen die Köpfe kahl zu scheren und ihre aus gutem Tuch gefertigten Uniformen hoben sich vorteilhaft vom Rest der estnischen Armee ab, die das russische Vorbild nicht verleugnen konnte. Während die Beine der Wachsoldaten in weichen Stiefeln steckten, war das Schuhwerk der gemeinen Soldaten so grob und steif, dass deren Träger oft hineinpinkelten, um es etwas geschmeidiger zu machen.
Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Schlimm war nur, dass dieser Schatten im Wachbataillon vor allem auf Niki zu fallen schien. Von Anfang an hatten ihn die Ausbilder besonders ins Auge gefasst. Wurde ihm der Wunsch, in den Sanitätsdienst versetzt zu werden, hier übel genommen?
Wegen seiner Repräsentationsaufgaben unterstand das Wachbataillon einem strengen Reglement. Regelmäßiger Exerzierdienst und penible Befolgung formaler Vorschriften gehörten zum täglichen Dienstablauf. Niki empfand diesen Drill, sowie das ständige Tadeln und Korrigieren der Vorgesetzten, als Schikane und persönliche Demütigung. Während seine Kameraden den Dienstablauf als unvermeidliches Übel hinnahmen, lehnte er sich dagegen auf. Vor allem ein massiger Feldwebel mit Halbglatze und fleischiger Nase, aus der sein fehlender Haarbesatz zu sprießen schien, hatte es auf ihn abgesehen. Seine kleinen, wasserblauen Augen, der wulstige Mund und sein ausgeprägtes Kinn machten ihn zum Urbild eines Schleifers.
„Bei jedem Appell zähle ich bis zehn“, drohte er seinen Dienstbefohlenen, „dann seid ihr angetreten. Und zwar in einem Zustand, an dem es nichts auszusetzen gibt. Das gilt auch für die Klugscheißer unter euch“, dabei musterte er Niki, Geisheimer und Storoschenko mit missfälligem Blick.
Nikis großes Problem war sein angeborener Mangel an Akkuratesse, der sich auch im Zustand seiner Dienstkleidung niederschlug. Normalerweise handelte es dabei um kein schwerwiegendes Vergehen, doch beim Wachbataillon war das anders. Auf den perfekten Sitz der Uniform und den Zustand der Ausrüstungsgegenstände wurde größter Wert gelegt. Wegen seiner bekannten Nachlässigkeit wurde Niki stets mit besonderer Akribie gemustert. Selbst wenn er sich intensiv um sein Erscheinungsbild gekümmert hatte, fanden die Ausbilder an ihm noch immer etwas auszusetzen. Sei es, dass ein Kragenknopf nicht geschlossen war, der Uniformrock klaffte oder sonst eine Lappalie. Manchmal schien ihm, als ob es bei diesen kritischen Musterungen nicht mit rechten Dingen zuginge.
„Bisdorff, treten Sie vor! Ihr rechter Stiefelschaft sitzt nicht“, kritisierte ihn eines Tages sein berüchtigter Ausbilder.
In der Tat hatte es Niki nach der vorangegangenen Ruhepause nicht geschafft, seine Stiefel auf die Schnelle vorschriftsmäßig anzuziehen. „Das stimmt, Herr Feldwebel. Ich erlaube mir darauf hinzuweisen, dass auch der Linke nicht sitzt“, korrigierte ihn Niki.
Die Angetretenen lachten.
„Ruhe“, schnaubte der Ausbilder und wandte sich wieder an Niki: „Sie haben es nötig, noch Witze über den unkorrekten Sitz Ihrer Stiefel zu machen. Ihr widerborstiges Verhalten missfällt mir schon lange. Heute Abend nach Dienstschluss werde ich Ihnen zeigen, wie Dienstvorschriften zu beachten sind. Es wäre ja gelacht, wenn es mit dem Sitz Ihrer Stiefel nicht klappen würde.“
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