Am Morgen des folgenden Tages läutete es im Hause Bisdorff. Lena stand vor der Tür. Verlegen teilte sie Galina mit, dass sie Nikis Unterricht nicht mehr fortführen könne. Ihre Mutter sei erkrankt und bedürfe der Pflege; sie müsse deshalb umgehend abreisen. Sie bedauere diese Entscheidung, denn die Arbeit mit Niki habe ihr viel Freude bereitet. Galina fiel aus allen Wolken, doch Lenas Weggang war nicht zu ändern. Bekümmert wünschte sie ihr Glück und Erfolg für das weitere Leben.
Als Niki von Lenas Abreise erfuhr, brach der Himmel über ihn zusammen und er konnte das Gehörte nicht glauben. Seine Geliebte würde ihn verlassen, ohne sich auch nur von ihm zu verabschieden. Warum nur? Er liebte sie doch und hätte sie geheiratet! Der kleine Altersunterschied zwischen ihnen hätte doch nichts bedeutet. Verstört machte er sich auf den Weg zu ihr, doch er fand die Wohnungstür verschlossen. Lena war nicht mehr da und seine erste große Liebe ging bereits zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. In seinem Kummer und seiner grenzenlosen Enttäuschung war er kaum ansprechbar.
Um seinen Schmerz zu betäuben, wandte er sich wieder verstärkt seinen alten Hobbys zu. Für seine Insektensammlung fing er auf den umliegenden Feldern und Wiesen Schmetterlinge und Käfer. Auf den seiner Heimatstadt vorgelagerten Inseln stellte er dem Segelfalter nach und auf dem deutschen Friedhof machte er spätabends Jagd auf Nachtfalter. Seine Sammlung war inzwischen auf über 2.000 Exponate angewachsen. Nicht nur seine Klassenkameraden, sondern auch viele Erwachsene kamen, um seine Schätze zu bewundern. Daneben pflückte und trocknete er Beeren für seine Kanarienvögel und Dompfaffen, die er in einer riesigen Voliere hielt. Doch sein Schmerz wurde nur notdürftig übertüncht. Er konnte einfach nicht einsehen, dass Gefühl und Verstand unterschiedliche Dinge sind, die sehr oft unterschiedliche Wege gehen.
Schon vor seinem Abitur, das er mit einer ordentlichen Note bestand, war sich Niki auch über seinen späteren Beruf klar geworden: Er wollte Medizin studieren und Arzt werden. Die Gebrechen der Menschen zu heilen und den Kranken in ihrer körperlichen und seelischen Not beizustehen, empfand er als seine persönliche Berufung.
Das ethisch geprägte Berufsbild eines Arztes erschien ihm so hochstehend und erhaben, dass er die Wahl eines anderen Berufes gar nicht in Betracht zog.
Auch in Estland war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland eine Jugendorganisation gegründet worden, die sich an dem Vorbild der Hitlerjugend orientierte. Ihre Mitglieder trugen zwar keine braunen, sondern grüne Hemden, die ideologische Ausrichtung war aber die gleiche. Durch Disziplin und sportliche Ertüchtigung sollten sich die baltendeutschen Jugendlichen, ähnlich wie ihre Altersgenossen in Deutschland, auf ein martialisch geprägtes Leben vorbereiten. Auf gut organisierten Fahrten und an romantisch lodernden Lagerfeuern suchte man die jungen Menschen von der nationalsozialistischen Ideologie und ihren rassistischen Vorurteilen zu begeistern.
Auch in Nikis Klasse hatten sich viele Mitschüler dieser Jugendorganisation angeschlossen. Die Saat der Nazi-Agitatoren war auf fruchtbaren Boden gefallen. Die meisten hatten sich weltanschaulich bereits so festgelegt, dass es wenig Sinn machte, mit ihnen über Politik zu diskutieren. Nach ihrer Überzeugung beruhten die gegenwärtigen Probleme Europas auf dem Unrecht des Versailler Vertrages und den Verbrechen der Juden. Nur Hitler und die Nationalsozialisten wären Willens und in der Lage, die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Kontinents zu lösen. Wenn es zum Krieg käme, trügen Franzosen und Engländer die Hauptschuld, die bereits durch die Versklavung der Menschen in ihren Kolonialreichen eine große moralische Schuld auf sich geladen hätten.
Niki erschien dieses Denken zu vordergründig und banal. Keiner dieser Gutgläubigen wusste doch, was letztlich die Ziele der Machthaber in Berlin waren. Dem Volk und selbst unbedarften Parteigenossen wurde doch nur mitgeteilt, was die politische Führung für opportun hielt.
Viele Mitschüler entrüsteten sich über Nikis kritisches Denken und warfen ihm vor, die Probleme der Zeit nicht erkennen zu wollen. Doch er beharrte auf seinem Standpunkt und lehnte es weiterhin ab, der am Nationalsozialismus orientierten Jugendbewegung beizutreten. Auch die propagandistisch aufgezogene Erntehilfe für die deutsch-baltischen Großgrundbesitzer sah er als politische Bauernfängerei und lehnte es deshalb ab, bei den propagierten gemeinsamen Erntearbeiten mitzumachen. Dabei konnte ihn auch der Vorwurf, dass er sich damit außerhalb der baltendeutschen Solidargemeinschaft stelle, nicht umstimmen.
In seiner kritischen Haltung sah er sich zusätzlich bestärkt, als die wenigen jüdischen Schüler seiner Klasse, ein Jahr vor dem Abitur, die deutsche Schule verlassen mussten. Nie hatte es Probleme wegen ihres Glaubens oder ihrer Rasse gegeben. Auch der mit ihm befreundete Sohn einer russischen Kantonistenfamilie hatte sich unter den Verfemten befunden.
Wie immer versuchte ein großer, mächtiger und schön geschmückter Christbaum weihnachtliche Stimmung im Hause Bisdorff zu verbreiten. Doch diesmal war Nikis Festtagslaune nicht die beste und selbst das wertvolle Angelzeug, das ihm der Vater für sein gutes Abiturzeugnis geschenkt hatte, konnte daran nichts ändern. Der Grund für die schlechte Laune war seine Einberufung zum estnischen Militärdienst, den er mit Beginn des anstehenden Jahres anzutreten hatte. Den schulischen Zwängen würde also bald der militärische Drill folgen.
Von seinen bereits früher eingezogenen Klassenkameraden wusste er, was ihn erwartete. Im Gegensatz zu ihm, der sich für den einfachen Wehrdienst entschieden hatte, besuchten sie jedoch durchwegs die Offiziers-Aspirantenschule. Nach Abschluss ihrer Ausbildung waren sie Reserveoffiziere, während er den wenig prestigeträchtigen Status eines einfachen Soldaten haben würde. Doch dafür war seine Ausbildung kürzer und an einer militärischen Karriere war er ohnehin nicht interessiert. Abgesehen davon fragte er sich generell nach dem Sinn des estnischen Militärdienstes. Im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung würde das kleine Estland ohnehin in kürzester Zeit vom Gegner überrannt werden.
Wie er in den nächsten Monaten dann feststellen konnte, war der Wehrdienst doch nicht so belastend, wie ursprünglich befürchtet. Drill und Schleifereien hielten sich in Grenzen.
Im Hinblick auf sein angestrebtes Medizinstudium stellte er am Ende der Grundausbildung einen Antrag auf Übernahme in den militärischen Sanitätsdienst. Ein solcher Wechsel erwies sich jedoch als nicht einfach. Nur die jeweils Besten einer Einheit konnten nämlich über ihren künftigen Einsatzbereich frei entscheiden. Für die Beurteilung der Soldaten war das Ergebnis eines abschließenden Schießwettbewerbs von maßgeblicher Bedeutung. Niki war ein guter Schütze und hatte bereits zwei interne Wettbewerbe gewonnen. Seine Chancen standen also nicht schlecht. Doch als es jetzt darauf ankam, versagte er in seiner Paradedisziplin Stehendschießen und fiel in der Wertung zurück. Die Versetzung in den Sanitätsdienst konnte er damit vergessen.
Über die Verwendung der Rekruten wurde kurze Zeit später in Tallinn entschieden. Auf dem Appellplatz eines Kasernengeländes wurden den im Karree angetretenen Soldaten ihre künftige Waffengattung und ihr Einsatzort mitgeteilt. Auf Niki wartete eine besondere Überraschung: Ein junger Leutnant informierte ihn darüber, dass er dem Wachbataillon des Präsidenten der Republik zugeteilt worden wäre.
„Ich würde gerne im Sanitätsdienst eingesetzt werden“, wagte Niki zu bemerken.
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