„Und?“
„Wenn dem Herrscher etwas zustößt und es keine Erben gibt – wer profitiert dann am meisten davon? Soweit ich weiß besitzt Godvere keine weiteren Familienmitglieder mehr.“
Mornas einfache aber direkte Art zu denken faszinierte und ängstigte Elze gleichermaßen: „Was hast du jetzt vor?“ Fragte die ältere Frau und befürchtete fast die Antwort schon zu kennen. Morna legte beide Hände auf ihre Schultern und sah sie flehentlich an:
„Kannst du mich durch diese geheimen Gänge bis zu den Gemächern des Ministers führen?“
Elze's Befürchtungen bewahrheiteten sich wobei sie ihre Augen verdrehte:
„Ihr wollt, dass ich euch zu den Gemächern des zweit mächtigsten Mannes des ganzen Reiches bringe? Und was dann?“
Mornas Stimme wurde zunehmend verzweifelter: „Elze, bitte. Ich muss irgendetwas unternehmen. Ich bin davon überzeugt, dass Lord Reichel hinter alledem steckt. Nenne es ein Bauchgefühl, oder was auch immer.“
Elze stöhnte laut auf und gab sich geschlagen: „Ich werde euch helfen mein Kind. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ihr die Kleinen wieder in euren Armen halten könnt – aber wir werden mit Bedacht vorgehen.“
Morna wollte vor Freude gerade laut aufschreien als sie Elze einen fragenden Blick zuwarf: „Mit Bedacht?“
„Als erstes werdet ihr mir in meine Gemächer folgen.“ Stellte Elze in einem Befehlston klar, der keinerlei Widerrede duldete: „Ihr braucht dringend etwas zu essen und bei den Göttern... neue Kleidung benötigt ihr auch. Wir werden mit absoluter Sicherheit den einen oder anderen Palastflur durchschreiten müssen, um von Gang zu Gang zu gelangen. In eurem jetzigen Aufzug kommen wir in den Fluren keine zehn Schritte weit. Morna war sofort einverstanden und schloss Elze glücklich in die Arme. Anschließend folgte sie ihr in den schmalen Gang, der sie von der gruseligen Zelle endlich nach oben führen sollte. Elze verschloss die Geheimtür und wollte gerade die ersten Stufen nach oben gehen, als Morna sie festhielt:
„Hätten wir nicht noch die Fackeln in Dormus' Zelle löschen sollen?“
„Wieso denn das?“ Erhielt sie belustigt zur Antwort: „Sollten dort tatsächlich irgendwelche Wärter auftauchen, um nach euch zu suchen, wird man bestimmt glauben, dass Dormus die Fackeln höchstpersönlich entflammt hat.“
Die Vorstellung amüsierte Elze ungemein. Es dauerte eine ganze Weile bis sie mit dem leisen kichern aufhörte, während sie die endlos scheinenden Stufen nach oben erklommen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, unzähligen Gängen und Abzweigungen, waren die beiden Frauen soweit emporgestiegen, dass sie das gewaltige Areal der Kerkeranlagen endgültig hinter sich gelassen hatten. Die Atemluft wurde zunehmend besser und selbst die Dunkelheit wurde erträglicher, da immer wieder Tageslicht durch die zahlreichen Risse und Spalten im Mauerwerk fielen. Inzwischen konnten sie sogar Stimmen der Dienerschaft oder von wachhabenden Soldaten vernehmen. Es war unübersehbar, dass die alte Dienerin sich immer besser im endlosen Geheimlabyrinth zurechtfand je weiter sie die Verließe hinter sich zurückließen. Elze wurde stetig selbstsicherer was das Aufspüren der richtigen Geheimgänge anbelangte. Zielsicher marschierte sie nun in Richtung des Bediensteten Trakts. An einer bestimmten Schiebetür angekommen, steckte Elze die Fackel in die Halterung, die sich gegenüber der Tür befand und erstickte die Flamme mit einer Löschglocke, die auf dem Boden lag. Dann öffnete sie die Schiebetür und bedeutete Morna leise durch die Wandöffnung zu treten. Die beiden befanden sich nun im großen Wandschrank, der sich in den Gemächern der Dienerin befand.
„Werden die Soldaten auf der Suche nach den Zwillingen nicht auch hierherkommen?“ fragte Morna ängstlich.
„Das waren sie schon, bevor ich zu euch ins Verließ kam,“ antwortete Elze: „Den Bediensteten Trakt haben sie sich als erstes vorgenommen.“
Elze öffnete die Schranktür von innen, so dass die beiden Frauen das recht geräumige Zimmer betreten konnten. Es war helllichter Tag. Sofort legte Morna eine Hand schützend vor ihre Augen, die sich ans Sonnenlicht erst wieder gewöhnen mussten.
„Es wird schnell besser werden Liebes.“ Brachte Elze hervor. Aber wenn wir bei dem jetzigen Trubel die Fensterläden schließen, stehen die Soldaten gewiss sofort wieder vor der Tür.“ Elze schob einen Stuhl in eine schwach vom Tageslicht durchflutete Ecke des Zimmers und stellte ihn so, dass die Lehne zum hereinfallenden Licht stand und bat die junge Frau sich zu setzen. Als nächstes brachte sie ihr alles zu essen, was ihr kleines Küchenschränkchen hergab. Frisches Brot, Käse, Schinken und sogar einige Trockenfrüchte. Völlig ausgehungert nahm Morna das Essen dankbar an und ließ nichts davon übrig, während Elze ihr einen Kräutertee zubereitete. Dankbar lächelte die Halbgöttin, als die Dienerin ihr den Tee reichte. Nach dem ersten Schluck begann sie bereits zu gähnen und Elze nahm ihr den Becher aus der Hand. Behutsam half sie der jungen Frau vom Stuhl und legte sie auf ihre eigene Schlafstätte. Zärtlich strich sie der Halbgöttin die schmutzigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und wusch ihr den Dreck mit einem feuchten Tuch aus dem Gesicht. Morna bekam von alledem nichts mehr mit.
„Komm erst einmal zu Kräften mein Kind,“ flüsterte Elze der schlafenden Halbgöttin zu: „Denn in diesem Zustand bist du deinen Kindern absolut keine Hilfe.“
Der Anblick der Göttin der Gerechtigkeit war atemberaubend. Ihr langes goldblondes Haar fiel ihr lose über die nackten Schultern und wurde nur durch ein silbernes Band gebändigt, während ihr Gesicht seitlich von lockigen blonden Strähnen eingerahmt war. Die dunklen braunen Augen der Göttin, liebte Vitras ganz besonders. In ihnen konnte er sich endgültig verlieren und alles um sich herum vergessen. Ihre makellose, fast Elfenbein weiße Haut unterstrichen ihre formvollendeten rosigen Lippen. Ein langes weißes Kleid, durchwoben mit goldenen Symbolen in der Sprache der Götter, betonte ihren traumhaften Körper. Das Kleid wurde von zwei hauchdünnen goldenen Schulterträgern gehalten, die mit leuchtend grünen Smaragden befestigt waren. Um ihre Hüfte schlang sich ein breiter weißer Gürtel, der mit diesen grünen Edelsteinen nur so übersät war. Neckisch blickte sie auf Vitras, der vor ihr kniete, herab:
„Wie immer befindest du dich in einem äußerst erbärmlichen Zustand, wenn wir uns begegnen mein Lieber. Bist du dir sicher, dass du einen Kriegszauberer darstellst? Oder steckt hier Absicht dahinter!“
Betreten blickte Vitras an sich herab. Seine zerrissene und größtenteils vom Blut durchtränkte Kleidung, der Schmutz und Dreck des vorangegangenen Kampfes, sowie sein zerzauster Bart – er musste wahrlich einen traurigen Anblick abgeben. Ein urplötzlich auftauchender Lärm, das Bersten von Holz sowie das zersplittern von Glas, ließ Vitras hochschnellen und herumwirbeln. Das Fehlen der zerstörten Seitenwand ließ die Dachkonstruktion seiner Hütte herunter sacken, worauf sein Heim endgültig in sich zusammenbrach. Mirna begann vornehm zu klatschen:
„Wahrlich ein Palast. Ein Bauwerk eines Kriegszauberers würdig. Du verstehst es wie kein zweiter, eine Frau zu beeindrucken.“
Ihr Klatschen verärgerte Vitras. Dies war nun schon das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass ihn ein Gott auf diese Art der Lächerlichkeit preisgab. Doch schnell schluckte er den Ärger wieder herunter, als er Filou bemerkte. Überglücklich sah Vitras das Frettchen aus den Trümmern hüpfen. Verwirrt blickte der Nager sich um, bis er seinen Herrn sah. Pfeilschnell rannte Filou zu dem Kriegszauberer und blieb kurz vor ihm stehen. Misstrauisch beäugte das Tier die Göttin. Sein Instinkt sagte ihm, dass eine seiner üblichen Freudenattacken hier fehl am Platze wäre. So kletterte Filou schnell an Vitras hoch und machte es sich auf seinen breiten Schultern gemütlich. Dort begann er jedoch sofort ängstlich zu zittern. Die vergangenen Ereignisse hatten das kleine Tier schlichtweg überfordert. Filou hatte lediglich begriffen, dass sein Leben sowie das seines Herrn in Gefahr war. Der furchtsame Blick den er Mirna zuwarf, bewies das er noch lange nicht davon überzeugt war, dass keine Gefahr mehr bestand. Die Göttin spürte seine Furcht sofort. Lächelnd ging sie einen Schritt auf Vitras zu und legte behutsam ihre Hand auf das Köpfchen des Tieres. Von einem Moment zum nächsten war die Angst des Tieres verschwunden. Mirnas Hand begann sachte zu leuchten und eine wohlige Wärme durchströmte den Körper des Tieres. Filou überkam das angenehmste Gefühl, dass er je in seinem bisher kurzen Leben erfuhr. Er fühlte sich nun absolut sicher. Dankbar, wie es nur ein Tier vermag, blickte er die Göttin an. Eine Freudenattacke erschien ihm jedoch immer noch als unangemessen.
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