„Wir sind da!“ stellte Elze nüchtern fest, die anstatt weiterhin zu flüstern, jetzt klar und deutlich sprach. Die beiden Frauen zwängten sich durch den Spalt zwischen der zerstörten Tür und dem Mauerwerk, um die Zelle zu betreten. Staunend blickte sich Morna im Schein der Fackel um. Diese Zelle hatte aber auch wirklich überhaupt nichts mit dem Loch gemein, in dem sie die letzten vier Wochen verbrachte. Elze schritt zur gegenüberliegenden Wand und entzündete dort zwei weitere Fackeln, die in kunstvollen Wandhalterungen steckten. Anschließend ging sie zu den anderen Wänden und entzündete auch dort mehrere Fackeln, so dass der gesamte Raum hell ausgeleuchtet war. Erneut musste Morna die Hand schützend vor die Augen halten, doch sie gewöhnte sich immer schneller an das Licht. Erstaunt stellte sie fest, dass die riesige Zelle mit dicken Teppichen ausgelegt war. Der gesamte Raum war mit kostbarem Mobiliar ausgestattet und an den Wänden hingen prächtige Gemälde. Der Zahn der Zeit hatte jedoch alles mit einer dicken Staubschicht und zahllosen Spinnweben belegt. Mittig der rechten Zellenwand befand sich ein prunkvolles Bett, ebenfalls völlig vom Staub überzogen. Auf ihm befanden sich die Jahrhunderte alten Überreste eines Menschen. Um den Hals des Skeletts befand sich ein Eisenring, von dem aus eine schwere Kette zur Wand führte und dort mit einem Ring abschloss, der fest in der Mauer verankert war.
„Darf ich vorstellen?“ witzelte Elze um die unheimliche Atmosphäre etwas aufzulockern: „Dormus der Schreckliche, einst Herrscher des Darkanischen Reiches.“
„Niemand hat es verdient, tief unter der Erde eingeschlossen, so zu enden.“ stammelte Morna, die voller Abscheu über diese Tat, mitleidig auf die Überreste des einstigen Herrschers blickte.
„Oh doch mein Kind,“ brachte Elze mit fester Stimme hervor: „Oh doch, glaub mir, der hier schon. Der hätte noch viel schlimmeres verdient. Abgesehen davon, er hatte es doch gut hier. Schau dich doch nur um, und denk mal an deine Zelle zurück!“
Morna wandte sich von dem Skelett ab: „Und wie geht es jetzt weiter?“
Elze entledigte sich des Jutebeutels, den sie die ganze Zeit über ihrer Schulter trug. Sie hockte sich auf den Boden und kramte verschiedene Pergamentrollen hervor, die sie auf dem Boden ausbreitete. Morna kniete sich neben sie, um einen Blick auf die Aufzeichnungen zu werfen. Sie konnte mit all den Kurven, Linien und Symbolen jedoch nichts anfangen.
„Hat das etwas mit menschlicher Magie zu tun?“ Platzte es plötzlich aus ihr heraus.
„Menschliche Magie? Kind! Das sind uralte Pläne des Palastes, besser gesagt des geheimen Palastes.“
„Des geheimen Palastes?“
„Die gesamte Palastanlage,“ begann Elze ihr zu erklären: „Ist von Geheimgängen, Tunneln und Fluchtwegen nur so durchzogen. Bei genauer Kenntnis aller Ein und Ausgänge sowie der geheimen Wege, ist es möglich nahezu von jedem Ort des Palastes ungesehen zu einem anderen zu gelangen. Und glücklicherweise führt uns einer dieser Geheimgänge hier wieder heraus. In dieser Zelle muss es einen versteckten Ausgang geben.“ Daraufhin wandte sich Elze wieder den Plänen zu. Immer wieder verschob sie die Pergamente wie bei einem Puzzle, stöhnte entnervt auf oder schüttelte leicht ihren Kopf.
„Heureka!“ Platzte es auf einmal aus ihr heraus: „Ich hab’s! Ich hab’s!“
Ohne besondere Eile rollte die Dienerin die Pergamente zusammen und verstaute sie wieder in ihrem Jutebeutel. Dann stand sie auf und ging schnurstracks zu der Wand, gegenüber dem Prunkbett und zählte die Gesamtzahl ihrer Schritte entlang dieser Wand ab. Kurz grübelte sie über etwas und schritt die Wand erneut ab, wobei sie ihre Schritte erneut zählte. Beim siebenten Schritt blieb sie diesmal stehen und untersuchte die Mauer. Als nächstes versuchte sie einen bestimmten Stein tiefer ins Mauerwerk zu drücken, doch nichts tat sich. Einem Wink der Dienerin gehorchend, schritt Morna zu ihr, woraufhin sie zu zweit versuchten den Stein weiter in die Mauer zu drücken. Gerade als Morna kurz davor war aufzugeben, gab der Stein nach und ließ sich eindrücken. Nach einem kurzen Augenblick setzte sich ein Jahrhunderte alter Mechanismus, mit einem lauten knarren und dröhnen in Gang. Ein Teil der Wand, gerade groß genug um eine Person durchzulassen glitt zurück und ließ dabei Unmengen von Staub und Dreck empor wirbeln. Nachdem die Schmutzwolke sich etwas gelegt hatte, hielt Elze ihre Fackel in den nachtschwarzen Durchgang. Erleichtert stellte Morna fest, dass eine schmale Treppe nach oben führte. „Elze?“ Fragte sie: „Du hast mir doch erklärt, dass der gesamte Palast mit solchen Geheimgängen durchzogen ist!“
Die alte Dienerin schaute Morna gespannt an. Ihr entging nicht die plötzliche Anspannung in Mornas Stimme und wartete ab, worauf sie hinaus wollte.
„Wer weiß noch alles davon?“ Fuhr sie fort: „Doch mit Sicherheit Godvere – oder?“
„Nein!“ Antwortete Elze: „Das glaube ich nicht! Das wahre Ausmaß dieser Gänge kennt niemand. Nicht einmal der Herrscher. Er weiß gewiss von dem einen oder anderen Fluchtweg, aber mehr auch nicht. Meine Familie hat Jahrhunderte gebraucht um all diese Karten zu erstellen.“ Dabei zeigte sie auf die Pergamentrollen in ihrem Jutebeutel.
„Was aber...“ führte Morna weiter aus: „Wenn es doch jemanden gibt, der davon Kenntnis hat, deine Familie es nur nicht ahnt?“
Elze dachte über Mornas Worte nach: „Ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Ich habe zwar seit längerem den Verdacht, dass Lord Reichel über einige Gänge Bescheid wissen könnte, aber auch er wird das gesamte Ausmaß nicht kennen.“
„Lord Reichel, der Minister?“ Morna mochte diesen Mann, den der Herrscher immer wieder mit außenpolitischen Aufgaben versah, überhaupt nicht. Der Mann hatte das verschlagene Gesicht eines Geiers. Immer wieder erschrak sie, wenn sein hagerer Körper lautlos und völlig unerwartet hinter einer der Säulen im Palast auftauchte. Sie verabscheute das freche Grinsen, das stets die schmalen Lippen seines bleichen Gesichts zierte, sobald er sich verschwörerisch mit anderen Politikern in irgendwelche dunklen Ecken zurückzog. Auch die unheimlichen Gesandten aus den fernen Ländereien des Ostens und ihrer Hauptstadt Kushtur, mit denen er sich ausgezeichnet zu verstehen schien, jagten ihr stets einen Schauer über den Rücken.
„Du sagtest mir vorhin,“ nahm Morna ihren Gedankengang wieder auf: „Die Wachen munkeln, das die Entführung der Kinder mit Magie zu tun haben muss.“
„Nun ja,“ erwiderte Elze:
„Die beiden sind immerhin aus einem geschlossenen Raum, im am besten bewachten Flügel des Palastes verschwunden. Da ist es...“ Elze sprach den Satz nicht weiter aus, als ihr schlagartig klar wurde, worauf Morna hinaus wollte.
„Das bedeutet,“ fuhr Morna beinahe erleichtert fort: „, Dass das Verschwinden der beiden absolut nichts mit Magie zu tun haben muss. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass wir es mit ganz gewöhnlichen Missetätern zu tun haben.“
„Na als ganz so gewöhnlich würde ich sie nicht abtun.“ Antwortete Elze: „Wenn sie tatsächlich von den geheimen Gängen wissen und es sich obendrein trauen, den Prinzen und die Prinzessin zu entführen.“
Bei Elzes Worten wurde Morna urplötzlich wieder von der ganzen Trauer und Wut übermannt, so dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Elze legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.
„Ich bin davon überzeugt,“ fuhr Morna fort: „Das dieser Lord Reichel hinter der Entführung steckt.“
„Wie kommt ihr darauf? Reichel ist ein Feigling. Der Herrscher würde ihm die Haut in Streifen abziehen, sollte er tatsächlich etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben. Das traut sich Reichel nicht!“
„Du vermutest doch selbst, dass er von einigen Gängen Bescheid wissen könnte.“
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