„Wie hast du es bloß geschafft, an den Schlüssel zu kommen und dich an den Wärtern vorbei zu schleichen?“ flüsterte Morna ganz aufgeregt. Dabei blickte sie ängstlich über die Schulter der Dienerin, da sie befürchtete, dass die Wärter jeden Augenblick auftauchen könnten. Elze lächelte sie freudig an und hielt einen kleinen Lederbeutel hoch, den sie mit ihrer freien Hand aus ihrem Jutebeutel hervorkramte. Morna hielt indes noch immer eine Hand vor den Augen, da der Schein der Fackel sie regelrecht blendete.
„Die richtige Mischung aus Alraun, Nachtschatten und Tollkirsche.“ erklärte Elze stolz, während der Beutel sanft vor Mornas Gesicht hin und her schaukelte:
„Vielleicht noch eine Prise Bilsenkraut dazu. Das alles fein zerstoßen und in einen Becher Wein gemischt. Das ist es auch schon. Die Wärter haben sich riesig gefreut, als ich ihnen überraschend den Wein brachte.“ Elze strahlte jetzt über das ganze Gesicht:
„Als Dankeschön sind sie dann auch ziemlich schnell zu Boden geplumpst.“ Prüfend drehte Elze den kleinen Beutel zwischen ihren Fingern:
„Hoffentlich habe ich nicht zu viel Tollkirsche genommen!“ Kopfschüttelnd ließ sie den Beutel wieder in ihrem Jutesack verschwinden. Dann bekam ihre Stimme einen ernsten Tonfall:
„Ihr müsst hier sofort weg, es ist vor kurzem etwas Schreckliches geschehen. Ich befürchte, dass ihr eures Lebens jetzt erst recht nicht mehr sicher seid.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst Elze, aber ohne die Zwillinge gehe ich nirgendwo hin. Wir müssen erst meine Kinder holen.“
Elze begann leicht zu zittern: „Das ist es ja!“ wimmerte sie: „Die Zwillinge sind spurlos verschwunden. Der Herrscher ist außer sich vor Zorn. Er hat das gesamte Wachpersonal der letzten Nacht verhaften und in den Kerker werfen lassen. Hunderte Soldaten durchkämmen den gesamten Palast. Ich kann nicht einmal erahnen, wie viele Soldaten die Stadt durchforsten. Dabei dringen sie auf ihrer Suche nach den Kindern in jedes Haus ein. Nicht einmal die Villen der Adligen werden verschont. Doch sie sind unauffindbar. Mittlerweile sind nicht wenige davon überzeugt, dass Magie im Spiel sein muss.“ Um Morna herum begann sich plötzlich alles zu drehen. Sie hatte Angst den Boden unter den Füßen zu verlieren und konnte sich gerade noch an der kalten Mauerwand abstützen, um nicht hinzufallen.
„Es ist nur eine Frage der Zeit,“ fuhr Elze fort: „Bis der Herrscher euch zu sich bringen lässt. Ihr müsst augenblicklich hier verschwinden Herrin. Ich weiß nicht, wann die Wärter abgelöst werden und man eure Flucht bemerkt.“ Die Halbgöttin wirkte völlig geistesabwesend. Elze rüttelte an Mornas linken Schulter: „Habt ihr mich verstanden? Wir müssen hier weg!“ Es gelang Morna nicht, die Tränen zurück zu halten als sie Elze fragend anblickte: „Wie stellst du dir das vor? Wie sollen wir denn von hier entfliehen. Erst recht, wenn es überall von Soldaten nur so wimmelt?“
Elze setzte augenblicklich wieder ihr strahlendes Lächeln auf: „Oh – da habe ich schon so eine Idee. Oder dachtet ihr, ich wäre nur zu Besuch hier heruntergekommen? Kommt mit und bleibt dabei dicht hinter mir!“
Morna folgte der älteren Frau. Doch anstatt in den Vorraum zu gehen, wo die bewusstlosen Wärter lagen, und von wo aus eine Treppe nach oben führte, wählte Elze einen Seitengang, von dem aus eine Treppe die beiden Frauen tiefer ins Verlies führte. Die Stufen, die man vor Jahrhunderten ins Gestein geschlagen hatte, waren glitschig und somit extrem rutschig. Morna wunderte sich, mit welcher Leichtigkeit Elze eine Stufe nach der anderen nahm, während sie selbst sich immer wieder am Mauerwerk abstützen musste, um nicht den Halt zu verlieren. Unten angekommen, gelangten sie in einen fast kreisförmigen Raum, an dessen Wänden brennende Fackeln in ihren Halterungen steckten. Drei weitere Gänge führten aus diesem Raum hinaus. Morna kniff unwillkürlich wieder die Augen zusammen, doch sie schien sich schnell wieder an das Licht des Feuers zu gewöhnen. Der modrige Geruch, der einem hier unten entgegenschlug, war entsetzlich. Es roch nach Tod. Elze presste einen ihrer Finger an die Lippen und bedeutete der Halbgöttin absolut leise zu sein:
„Hier unten befinden sich nur noch zwei Wächter.“ teilte sie Morna flüsternd mit und deutete dabei in Richtung einer der drei Gänge: „Wir müssen diesen Gang dort entlang. Hier unten darf sich niemand außer den Wärtern aufhalten. Daher dürfen sie uns auf keinen Fall entdecken.“ Nach einer kurzen Weile, nahmen die beiden Frauen von weitem den Schein von Fackeln, der aus einem der anderen beiden Gänge kam, wahr. Die Wärter kamen rasch näher.
„Den Göttern sei Dank!“ murmelte Elze und zog Morna schnell in den Gang, auf den sie zuvor gezeigt hatte. Die beiden Frauen liefen so schnell sie konnten, bis sie die erste Gabelung erreichten. Zielsicher rannte Elze zur rechten weiter und wurde erst langsamer als sie sich sicher war, dass sie der Schein der eigenen Fackel nicht verraten hatte:
„Gleich müsste wieder eine Treppe nach unten kommen,“ flüsterte sie erneut: „Dann haben wir es fast geschafft.“
Morna schaute die Dienerin verwirrt an: „Müssen wir nicht irgendwann auch mal wieder eine Treppe nach oben nehmen, wenn wir hier rauskommen wollen?“ Dabei wischte sie sich Unmengen von Spinnweben aus den Haaren und ihrem ohnehin schon völlig zerschundenem Kleid.
„Hier führt keine Treppe mehr nach oben!“ Strahlte Elze sie an: „Hier führt auch kein bekannter Weg mehr nach draußen. Daher müssen wir uns jetzt auch um keine Wärter mehr sorgen.“ Ihr entging nicht, dass Morna sie völlig verständnislos anblickte.
„Seit beinahe fünfzig Jahren arbeite ich nun schon als Dienerin und Hebamme im Palast des Herrschers.“ klärte Elze sie auf: „Davor meine Mutter fast ebenso lang und vor ihr meine Großeltern. Denkt ihr nicht auch, dass in all den Jahrzehnten, ach was sag ich, den Jahrhunderten, in denen meine Familie im Palast arbeitete und gelebt hat – wir nicht von dem einen oder anderen Geheimnis erfahren haben?“ Morna schaute die alte Dienerin nur mit großen Augen an, als diese auch schon fortfuhr:
„Wir müssen zur Zelle von Dormus den Schrecklichen, dann sind wir am Ziel!“
„Dormus den Schrecklichen? Wie nett!“ Für einen kurzen Moment dachte Morna darüber nach, ob Elze noch richtig bei Verstand war. Sie hoffte es inständig.
„Keine Bange Liebes,“ versuchte Elze ihre Herrin zu beruhigen: „Dormus lebt schon seit über dreihundert Jahren nicht mehr. Allerdings hat man seine Gebeine nie aus seiner Zelle entfernt. Das ist auch der Grund warum sich niemand hier unten blicken lässt. In Darkan sind die Menschen sehr abergläubisch und es heißt, Dormus würde noch immer hier herumschleichen, um sich an den Lebenden für sein Schicksal zu rächen.“
Elze blieb kurz stehen und drehte sich zu Morna herum:
„Ihr seid doch nicht abergläubisch? Oder Liebes?“
Morna kam das alles nur wie ein einziger Alptraum vor. Aber sie vertraute Elze voll und ganz. Davon abgesehen, hatte sie gar keine andere Wahl. Ohne die Hilfe ihrer treuen Dienerin säße sie noch immer in ihrer Zelle, ohne einen einzigen Funken Hoffnung zu besitzen:
„Lass uns weitergehen Elze!“ Brachte sie lediglich hervor, woraufhin sich die alte Dienerin auch schon wieder umdrehte und vorneweg marschierte. Es dauerte noch eine ganze Weile bis sie die letzte Treppe erreichten, von der Elze sprach. Wieder handelte es sich um in Stein geschlagene Stufen und die beiden stiegen erneut noch tiefer ins Dunkel der Verließe hinab. Die Schatten, die von der tanzenden Flamme ihrer Fackel an die Wände geworfen wurde, schien Geister und Dämonen, Kobolde oder an was die Menschen sonst noch so glauben mochten, geradewegs dazu einzuladen, den beiden auf ihrem Weg aufzulauern. Am Ende der Treppe befand sich ebenfalls ein kreisförmiger Raum, allerdings hatte hier, den Spinnweben nach zu urteilen, seit Jahrhunderten niemand mehr die Fackeln entzündet, die noch immer in ihren morschen Wandhalterungen steckten. Zudem unterschied sich dieser Raum in einem wichtigen Detail vom vorherigen. Von hier aus führte nur ein einziger Gang weiter in die labyrinthartigen Tiefen des gewaltigen Kerker Komplexes. Am Ende dieses Ganges angekommen, befanden sie sich vor einer einzigen Zelle, dessen Zellentür geborsten und halb zerfallen aus den Angeln hing.
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