Ich wurde Stubenspinne in einer Dampfnudelbäckerei. Mein Netz legte ich nahezu unsichtbar inmitten der Backstube an und machte gute Beute. In einer Dampfnudelbäckerei entstehen tonnenweise Abfälle, die zwar größtenteils beiseite geschafft werden, aber an den unzugänglichen Stellen bleiben immer noch große Mengen liegen. Tausende hungrige Fliegen werden von den halbvermoderten Abfällen angelockt und stürzen sich gierig auf die nahrhafte Mehlpampe. In der Backstube war es das ganze Jahr hindurch immer schön warm und deshalb mangelte es mir auch in den kalten Wintermonaten nicht an Arbeit. Und noch einen Vorteil hatte die Backstube: Ein von Menschen gemachtes Gesetz verbietet es Bäckern in Backstuben mit Insektengiften zu hantieren. So konnte ich einerseits sicher sein, immer genug Arbeit zu haben, und wusste andererseits, dass mich kein unachtsamer Mensch aus Mordlust ansprühen würde.
Kurz, ich wurde fett und rund. Im dritten Jahr begann dann das Malheur. Meine Beine machten mir zu schaffen. Der ständige Dampf in der Luft ist der Tod eines jeden Gelenkes. Zunächst spürte ich ein leichtes Stechen, wenn ich schnell rannte, dann schwollen die Gelenke an, wurden dick wie eine durchgebackene Dampfnudel, und schließlich bekam ich solche Schmerzen, dass ich gezwungen war, einen Arzt zu konsultieren. Ich ging zu Hermanus Daufuß, der Spinne, die seit Jahr und Tag nebenan in der Arztpraxis lebte. Daufuß untersuchte mich sehr, sehr gründlich und meinte:
„Mein lieber Esmaraldus, ich habe es dir schon immer gesagt, die Bäckerei ist schlecht für deine Gesundheit.“
„Was ist los? Was fehlt mir?“, fragte ich.
„Rheumatismus“, meinte er, „Rheumatismus in allen acht Beinen. Ich würde sagen, bei dir ist das eindeutig eine Berufskrankheit.“
Er empfahl mir aufs dringlichste meine Arbeit aufzugeben und verordnete mir eine Kur im Süden.
„Seht mich an. Seht wie ich aussehe. Das Gehen mit Rheuma in den Knochen ist eine beschwerliche Sache. Seht mich an, wo ist meine Leibesfülle von einst geblieben? Abgemagert bin ich, bis auf die Knochen, und das Ziel der Reise ist noch lange nicht in Sicht.“
„Hättest du denn unterwegs nichts fressen können?“ fragte Tom vorwitzig.
„Also, erstens fressen wir Spinnen nicht, wir nehmen Nahrung zu uns, und zweitens geziemt es sich für eine gutbürgerliche Stubenspinne in gesicherten Verhältnissen nicht, im Freien Netze zu bauen.“
Tom, der von Spinnenehre keine Ahnung hatte, hielt vorsichtshalber den Mund. Sowieso waren ihm Spinnen egal, solange er ihre Gesellschaft nicht länger als eine halbe Stunde ertragen musste.
„Wir wollen auch nach Süden“, sprach die Mütze zu Esmaraldus, „wenn du willst, kannst du mit uns kommen.“
Tom glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er schüttelte den Kopf, dass die Ohren an seine Pausbacken klatschten und widersprach ohne zu überlegen:
„Kommt überhaupt nicht in den Käse. Ich will keine Spinne in unserer Koalition haben, die vor meiner Nase Fliegen frisst. Ich bin Vegetarier!
Außerdem, wenn ich das ganz am Rande bemerken darf, haben wir noch ein kleines Problem. Der Stiefel trägt ja nicht einmal uns über den Fluss, wie soll er dann noch eine Person zusätzlich befördern?“
„Mit dem Stiefel hast du wohl recht“, konterte die Mütze keck, die Esmaraldus sympathisch fand und sich nicht von einem dahergelaufenen Politiker vorschreiben lassen wollte, wer mit ihr ging und wer nicht, „aber wie du weißt, sind Probleme da, um gelöst zu werden. Nebenbei möchte ich dich daran erinnern, dass Wanderer auf weiter Flur sich gegenseitig helfen sollten, so gut es eben geht. Am besten lassen wir Esmaraldus selbst entscheiden, ob er mit uns kommen will.“
Tom blieb hart.
„Mir egal. Ich will nicht, dass vor meinen Augen eine Fliege gefressen wird.“
„Und ich sage, wenn Esmaraldus mit uns kommen will, soll er mitkommen. Zu dem Fliegenproblem soll er sich selbst äußern, aber ich bin sicher, dass er so viel Anstand besitzt, nicht genau vor deiner Nase eine Fliege zu verspeisen.“
Esmaraldus fühlte sich geehrt, dass die Mütze sich so für ihn einsetzte.
„Danke“, sagte er nur, legte sich erschöpft auf ein Stückchen Holz und ließ die schmerzenden Beine baumeln.
„Sehen sie Herr Mütz“, rief Tom empört, „Herr Esmaraldus schweigt. Er muss schweigen, denn jede Verteidigung seiner-seits würden meine Argumente zu Boden schmettern.
Fliegenfresser bleibt Fliegenfresser.“
Tom war zwar ein schnell aufbrausender Mäuserich, aber nun wurde er unfair. Er hockte sich demonstrativ mit dem Rücken zur Mütze und verschränkte die Vorderbeine vor der Brust. Er war fest entschlossen seine Koalition spinnenrein zu halten.
„Jetzt bleib aber auf dem Boden. Jeder soll Gelegenheit haben sich zu verteidigen, schließlich bist du Politiker.“
Esmaraldus stöhnte:
„Na ja, was soll ich schon sagen. Wir Spinnen sind nicht sonderlich beliebt, sei es bei Mensch oder Tier. Man ekelt sich vor uns, aber das kommt natürlich nicht daher, dass wir uns von Fliegen und ähnlichem Getier ernähren. Im Übrigen, Herr Tom, wir fressen die Fliegen nicht, wir betäuben sie ganz sanft, sie fallen sozusagen in einen tiefen Schlaf, und verarbeiten sie, wenn wir hungrig sind. Es ist nun mal von der Natur so vorgesehen.“
„Natur?“, fiepte Tom hysterisch, „ihr spinnt ein hinterhältiges Netz. Feige überrumpeln nenne ich das. Mord!“
Esmaraldus gehörte zu jener Sorte Spinnen, die sich nicht so schnell das Netz durcheinander bringen ließen, aber dass Tom ihn zum zweiten Mal einen Mörder nannte, ging ihm doch entschieden über den Faden. Er stellte sich auf seine acht Füße und konterte:
„Was ist in deinen Augen Mord? Was ist in deinen Augen Moral? Was ist mit der Katze, die euch Mäuse erst stundenlang quält und euch dann endlich von euern Leiden erlöst und umbringt?“
„Das ist ein fairer Kampf, aus dem nicht selten eine Maus als Sieger hervorgeht“, warf Tom voller Stolz ein.
„Ja, weil ihr Mäuse ebenso feige seid wie jedes andere Geschöpf, wenn es ums nackte Überleben geht. In panischer Angst verbergt ihr euch unter einem Hundeschwanz in der Hoffnung, dass er Katzen nicht leiden kann. Und was ist mit dem Speck, wenn ich fragen darf, ist das etwa kein Teil von einem Tier? Von einem Lebewesen?“
„Ich habe vorhin betont, dass ich Vegetarier bin“, fuhr Tom dazwischen.
„Egal. Dann frage ich dich, wie entsteht denn der Käse, den du Tag für Tag in dich hineinstopfst? Arme unschuldige Kühe werden ihr Leben lang in Pferche gesperrt und gezwungen, ihre Milch herzugeben, damit man Käse daraus machen kann. Und wenn sie sich dann irgendwann weigern, sich weiterhin täglich auspumpen zu lassen, verfrachtet man sie kurzerhand zum Schlachter. Meist wird dann billiges Hundefutter aus ihnen. Ist das moralisch?“
Tom trat den strategischen Rückzug an. Esmaraldus war zwar eine Spinne, argumentieren konnte er aber wie die beste Politikermaus. Ohne einen letzten Satz konnte Tom das Schlachtfeld allerdings nicht räumen.
„Die Kühe leben aber, die Fliegen sind tot.“
Jetzt stellte Esmaraldus sich auf die Hinterbeine und fuchtelte mit den anderen vier durch die Luft, trotz Rheuma.
„Was wäre denn, wenn wir keine einzige Fliege mehr fangen würden? Ich will es dir sagen. Binnen weniger Wochen würde der Fliegendreck so hoch den Boden bedecken, dass du mit deinen Stummelbeinchen darin ersticktest.“
Esmaraldus hatte Tom an einem seiner wundesten Punkte getroffen, seinen kurzen Beinchen. Erzürnt sprang er auf, holte Luft und wollte Esmaraldus eine gepfefferte Antwort an den Kopf werfen, als die Mütze dazwischen ging. Ihre Befürchtung, dass der kleine Disput zu einer echten Handgreiflichkeit ausarten könnte, war gar nicht so weit hergeholt. Sie hüpfte zwischen die beiden Streithähne und rief:
Читать дальше