»Sie ist hier«, platzte Kjell mitten in seinen Redeschwall hinein.
»Wer? Maret?« Galvin runzelte die tätowierte Stirn.
»Nein, nicht Maret. Ich bin mit meiner Mutter hier.«
»Deiner...« Galvin starrte ihn an, und Kjell nickte. Es dauerte einen Moment, bis Galvin diese Neuigkeit in vollem Umfang begriff. Dann war es um seine Fassung geschehen. Er wurde totenbleich und wich zurück, drehte sich um, schlug die Arme über dem Kopf zusammen und lehnte sich mit der Stirn an die kühle Wand, als wolle er nicht, dass Kjell seine Schwäche sah. »Sag, was ist passiert? Wo habt ihr sie gefunden? Wie ist sie...?« Die letzte Frage ging in seiner erstickten Stimme unter.
Da begriff Kjell. Er dachte, sie hätten ihren Leichnam mit hergebracht. »Aber nein, sie ist nicht tot. Sie ist zurückgekommen, sie ist oben bei Aislinn und hilft ihr.«
»Waas?!« Galvin fuhr herum, und Kjell konnte ein paar glitzernde Spuren in seinem hellen Bart sehen. »Sie lebt?« Galvin kam auf ihn zu, packte ihn bei beiden Schultern. »Ist das wirklich wahr?«, fragte er, wollte es noch nicht glauben, aber als Kjell nickte, stieß er einen Jubelschrei aus und umarmte ihn.
Kjell kam dieser abrupte Umschwung merkwürdig vor, daher machte er sich schnell wieder von Galvin los. »Mutter kam durch die Sümpfe nach Saran zurück, gerade noch rechtzeitig, um... um...« Er schluckte und konnte nicht weitersprechen. Es gärte immer noch in ihm, trotz aller Erkenntnisse.
Galvin hatte schon immer eine besondere Wirkung auf die jungen Menschen Temoras gehabt, zumal er mit den Jahren ein guter Zuhörer und vor allem ein guter Menschenkenner geworden war. Außerhalb der regulären Ränge der Gemeinschaft zu stehen, erlaubte ihm einen völlig anderen Durchblick. Die widersprüchlichen Gefühle im Gesicht von Altheas und Jeldriks Sohn sagten ihm, dass etwas Ernstes geschehen war. Sofort wurde er sehr wachsam. »Was ist passiert? So schlimm? Komm, setz dich und erzähl. Warum seid ihr hier?«
Einem Dritten, quasi Unbeteiligten die ganze Geschichte erzählen zu können, half Kjell mehr, als er sich hinterher eingestehen mochte, und dass Galvin als Saraner auch die Folgen der Entwicklung gut abschätzen konnte, umso mehr. Zum ersten Mal konnte er offen sprechen, denn er dachte, Galvin als Priester würde diese Dinge nicht für eigene Zwecke missbrauchen. Nur, da täuschte er sich sehr. Denn Galvin war kein Unbeteiligter.
Bald war dieser vollends über die Ereignisse im Bilde. Er hatte Kjell Mut zugesprochen und Trost, innerlich jedoch konnte er die kleine warme Flamme der Freude nicht unterdrücken. Althea war zurück... Althea war zurück... und sie hatte Jeldrik verlassen. Sie war frei! Als leise Schritte und Stimmen vor der Tür laut wurden und es klopfte, war es um seine Beherrschung geschehen.
Kjell musste schlucken, als er sah, wie Galvin seine Mutter in die Arme schloss, ihren Kopf mit beiden Händen umfasste und ihr einen stürmischen Kuss auf die Stirn gab. Bisher hatte er immer gedacht, die beiden seien gute Freunde, aber einen winzigen Moment lang blitzte eine durch nichts verhüllte Freude in Galvins Gesicht auf, und das Begehren in seinen Augen zeigte deutlich, wie es wirklich um ihn bestellt war.
›Er liebt sie‹, dachte Kjell und bereute es sogleich, dass er so offen gewesen war. Er hatte ihm viel zu viel verraten. Für diesen Mann war das Wissen, dass seine Mutter seinen Vater verlassen hatte, ein Geschenk der Götter, das sah er deutlich. Galvin hatte alles mit Leichtigkeit aus ihm herausgeholt, ihn ausgenutzt. Es war eine weitere bittere Lektion für Kjell, wie dumm und naiv er gewesen war, einem Fremden die innersten Familiengeheimnisse anzuvertrauen, und mit Genugtuung sah er, wie seine Mutter ihren Freund rasch wieder losließ.
Von Galvins wahren Gefühlen war freilich nichts mehr zu sehen, als die beiden sich voneinander lösten und er lächelnd auf sie herab sah. Da wirkte er wie ein Freund, ein besorgter Freund. »Du siehst müde aus. Dein Sohn hat mir schon erzählt, was geschehen ist. Willst du zu deiner Familie?«
Althea nickte und wandte sich ab. »Ja, das will ich, so schnell wie möglich. Ich konnte nicht in Saran bleiben.«
Galvin musste wohl erkannt haben, dass sie einen Moment Ruhe brauchte, denn er trat zurück und bedrängte sie nicht weiter. »Weiß Gayle schon, dass du hier bist? Nein? Dann werde ich sie holen. Setzt euch doch. Dort hinten findet ihr etwas zu essen und zu trinken. Ich bin gleich wieder da.«
Kaum war er fort, sank Althea geschwächt auf eine der Truhen. »Mutter, geht es dir gut?«, fragte Kjell besorgt.
Althea hob beruhigend die Hand. »Es ist nichts. Die Heilung deiner Urgroßmutter war anstrengend, das ist alles. Komm her, kleine Fee«, sie streckte die Hand nach ihrer Tochter aus, die immer noch mit ihrem jüngeren Bruder an der Tür stand, »gib mir ein wenig von deiner Kraft.«
Staunend sah Kjell, wie Fayes Hand in der ihrer Mutter zu leuchten begann. »Du kannst es?«, fragte er verblüfft.
»Ja. Hab’s gerade gelernt«, wisperte Faye, weil ihre Mutter die Augen geschlossen hatte und ein wenig ruhte. »Ich glaube nicht, dass Urgroßmutter es gemerkt hat, aber sie wollte trotzdem nicht, dass ich gehe.«
»Nein, das kann ich mir vorstellen«, sagte da Althea. »Sie hat versucht, dich an sich zu binden, nicht wahr?« Faye nickte zögerlich. »Oh, sie hat sich nicht verändert! Eine Novizin, die ihre eigene Urenkelin ist, würde ihr zu einer ganz anderen Machtposition verhelfen, auch ohne dass sie von deinen Fähigkeiten weiß. Wenn sie es wüsste, wärest du in großer Gefahr, kleine Fee, verstehst du das?«
»Sie würde von mir verlangen, alles zu tun, was sie will?«
»Nicht nur sie, sondern alle. Sollten sie entdecken, dass du heilende Kräfte besitzt, dann würden sie dich zwingen, alle zu heilen, die krank sind, und nicht nur sie.« Sie erklärte ihrer Tochter ein wenig, welche Verbindung eine Druidai mit den von ihr geheilten Menschen einging und welche Gefahr damit verbunden war. »Und wenn du dich weigerst, würden sie versuchen, dich zu brechen. Deshalb halte deine Fähigkeiten geheim, hast du verstanden? Dann gerätst du nicht in diese Falle.«
Faye nickte stumm, doch plötzlich riss sie die Augen auf. »Oh nein! Ich bin durch den Ring gelaufen! Jetzt ahnen sie bestimmt etwas.«
»Ja, das ist jetzt nicht mehr zu ändern«, seufzte Althea. »Wir müssen uns etwas ausdenken, solltest du einmal zu ihnen gehen. Aber keine Angst, diese Gefahr droht dir nicht jetzt. Wir gehen nach Gilda.« Althea machte die Augen auf und lächelte ihrer Tochter beruhigend zu, was die Kleine erleichtert erwiderte.
»Das ist auch besser. Die Alte ist eine Hexe«, sagte Bjarne verächtlich. »Sie hat Faye Angst gemacht.«
»Bjarne! Wie redest du über deine Urgroßmutter?«
»Ist doch wahr...«
»Klingt ganz nach Aislinn«, sagte da eine Stimme von der Tür. »Thea!« Gayle lief auf sie zu und umarmte sie stürmisch und noch völlig außer Atem. »Bei den Göttern, wie hatte ich gehofft und gebetet...«
»Ich weiß, ich weiß es«, flüsterte Althea und drückte ihre Freundin tröstend an sich, weil diese prompt in Tränen ausbrach.
Nachdem sich der erste Sturm der Gefühle gelegt hatte, saßen sie, bis es draußen dunkel wurde, in Galvins Gemach beisammen, aßen und tranken und redeten. Althea erzählte ihnen fast alles, was sie erlebt hatte, nur ihre Gefühle Jeldrik gegenüber verschwieg sie, und hieran lernte Kjell die kleinen, aber feinen Unterschiede zwischen guten Freunden und Vertrauten.
»Du hast Aislinn also gesund gemacht«, sagte Gayle irgendwann und lächelte Faye zu, was die Kleine aber nicht erwiderte. Die Kinder waren merkwürdig schweigsam, und keiner von Gayles Versuchen, sie aus der Reserve zu locken, hatte bisher gefruchtet. Sie rätselte, weshalb. »Ha, da werden einige aber bitter enttäuscht sein, allen voran Marets Arnor, der sich gute Chancen ausgerechnet hat, an Aislinns statt in den Rat aufzurücken. Daraus wird wohl erst einmal nichts.«
Читать дальше