Kjell und Bjarne wechselten einen Blick, dann traten sie ihnen hoch erhobenen Hauptes entgegen. »Wer sagt das?«
Kopfschüttelnd wandte Althea sich ab und lächelte Verna zu. »Scheint so, als würden sich meine Söhne hier bestens amüsieren«, sagte sie und setzte sich wieder zu ihren Freundinnen. Diese lachten, und sie nahmen sich ihre Becher und prosteten sich zu. »Auf unsere Familien.«
»Auf unsere Familien«, erwiderte Althea und musste den schmerzhaften Stich unterdrücken, der sie durchfuhr.
»Was hast du jetzt vor, Thea?«, fragte Rana nach einer Zeit des Schweigens.
Maret warf ihr einen schnellen Blick zu, aber Althea beschloss, ehrlich zu antworten. Sie hatte sich dies in der vergangenen Nacht gut überlegt. »Ich bleibe nur ein paar Tage hier, dann brechen wir auf nach Gilda. Ich möchte Galvin und Gayle wiedersehen, außerdem möchte ich, dass die Kinder ihre Urgroßmutter kennenlernen. Auch wenn ich sie nicht ausstehen kann«, fügte sie hinzu, als die anderen ihr Erstaunen ausdrückten, »finde ich doch, dass sie es sollten. Dieser Zweig ihrer Familie ist ebenso wichtig wie die anderen. Wisst ihr, ich möchte meinen Kindern nichts verschweigen, so wie es einst mein Vater getan hat. Ihnen sollen später alle Möglichkeiten offen stehen.«
»Und dazu gehört auch Temora«, sagte Maret und nickte ihr zu.
»Ja, auch Temora«, bekräftigte Althea und nahm einen weiteren Schluck des heißen Würzweins, den Verna ihnen allen eingeschenkt hatte. Er wärmte sie, aber noch mehr wärmte sie die Anteilnahme ihrer Freundinnen. »Ich brauche eure Hilfe. Wir sind ziemlich überstürzt aus Saran aufgebrochen, mit nichts außer meinem Heilerkorb und zwei Bündeln von Bjarne und Faye. Wir benötigen Pferde, Proviant und Kleidung.«
»Mach dir keine Sorgen, Thea«, sagte Verna, »Mahin hat schon alles veranlasst. In drei Tagen bricht eine Handelskarawane nach Norden auf, mit der könnt ihr reisen, und von Galeac brechen regelmäßig welche nach Morann auf.«
Althea nickte vorsichtig. Sie wollte Verna nicht erklären, dass sie lieber allein reiten wollte, ohne Ankündigung. Alles, was sie vermeiden wollte, war ein allzu großer Aufruhr, und das würde ihr auch gelingen. War sie erst einmal über die Grenze, dann würde sie mit ihren Kindern auf Nebenpfaden durch die Steppe bis nach Gilda reisen, und sie wusste auch schon, wen sie sich dafür als Begleitung suchen wollte. Doch das brauchten ihre Freunde nicht zu wissen, sonst brächten die es noch fertig und gaben ihr eine Wache mit.
Etwas aufgemuntert durch ihre weiteren Pläne verbrachte Althea mit ihren Kindern einen fröhlichen Abend bei ihren Freunden. Nun, da sie die größten Sorgen los war, konnte sie ihre Aufmerksamkeit ganz ihnen widmen. Verna und Mahin gingen völig in ihrer Rolle als Führer der Siedlung auf, hielten fast Hof und schlichteten nebenbei ein paar Streitereien. Bryn fachsimpelte mit Regnar über seine neuesten Waffen und Rana beschäftigte mit Livie und Phelana die Jüngsten der Gruppe. Nur Maret saß schweigend dabei und beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Sie sah irgendwie einsam aus, befand Althea, und wunderte sich, woran das wohl lag. Dies war schließlich ihre Familie.
Irgendwann wollte sie das nicht mehr mit ansehen, stand auf und setzte sich neben Maret. »Was ist mir dir? Du siehst irgendwie bedrückt aus.«
Ertappt zuckte Maret zusammen und lächelte dann etwas beschämt. »Ach, es ist nichts. Bei solchen Festen überkommt mich immer ein wenig die Traurigkeit, musst du wissen. Es erinnert mich daran, dass ich niemals eine eigene Familie haben werde.«
»Aber Maret, warum denn nicht?«, fragte Althea, nun ehrlich erschrocken. »Sicherlich gibt es jemanden, an dem du Gefallen findest.«
Marets Miene wurde verschlossen, und ein harter Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. »Ich soll Gefallen finden an einem Mann?« Sie schnaubte verächtlich. »Es gibt keinen im Volke Nitreas, der mir gefällt, und ich will auch keinen dieser Kerle in meinem Haus haben. Außerdem meiden sie mich, als Frau, verstehst du, weil sich Chayas Ruf auf mich übertragen hat oder sie mich für zu hässlich halten. Was weiß ich. Und in Temora... weißt du, Arnor besucht mich manchmal, aber er will nur reden. Er kommt zu mir, damit er seine Gedanken mit jemandem teilen kann, der frei ist von den Lehren und Einschränkungen der Gemeinschaft. Wir sind Freunde, nichts weiter.«
Althea verstand plötzlich nur allzu klar. »Du willst ein Kind.«
Maret nickte bedrückt. »Und ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Ich werde bald dreißig Jahre alt, und mir läuft die Zeit davon.«
Das verstand Althea. Mit dreißig Jahren galt eine hart arbeitende Frau im Volke Nitreas, wie in Saran auch, unweigerlich als alt. »Und dir einfach heimlich jemanden im Hafen zu nehmen, einen von Regnars Männern zum Beispiel, kommt natürlich nicht infrage. Oh Maret, ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll.«
»Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt.« Maret presste die Lippen zusammen. »Es wäre der letzte Ausweg. Aber ein schlechter Charakter vererbt sich auch, und die Vorstellung, einen kleinen Regnar aufzuziehen...«
»Vielleicht solltest du Galvin bitten. Er hat da ja so einen Ruf...« Sie sahen sich an und prusteten los. Lachend drückte Althea ihre Freundin an sich und wischte ihr unauffällig eine Träne ab. »Es wird sich alles finden, du wirst sehen. Alles wird gut.«
An diesen Satz musste Althea noch lange denken, als sie und die Kinder sich am nächsten Tag nach Temora aufmachten. Er galt auch in höchstem Maße für sie selbst. Marets Schicksal hatte ihr die schmerzliche Erkenntnis beschert, dass sie zwar Kinder, aber kein Zuhause hatte. Sie würde ein Neues erschaffen müssen, so schwer das auch war.
Doch nun wartete erst einmal ein schwieriger Weg auf sie: Aislinn. Der unbeliebteste Teil ihrer Familie, aber sie verbarg ihr Unbehagen gegenüber den Kindern gut, damit sie ohne Vorbehalte nach Temora gingen.
Im Bannwald hatte sich kaum etwas verändert, bis auf dass er noch undurchdringlicher geworden war als damals. Sie erkannte die Pfade alle wieder und zeigte ihren Kindern die getarnten Übergänge. Die Jungen und Faye waren mit Feuereifer dabei. Diese Wohnstätte war wie ein großes Abenteuer für sie, mit den vielen verborgenen Pfaden und geheimen Türen. Wenn sie wüssten, was in Gilda auf sie wartet, dachte Althea amüsiert. Sie zeigte ihnen auch alles andere, die Felsenenge mit dem einzigen Zugang nach Temora, die alten Höhlen, wo ihre Vorfahren einst gehaust hatten, mit den vielen Malereien und Verstecken. Es gab ihr Zeit, sich auf die Begegnung mit Aislinn vorzubereiten.
Durch die vielen Umwege war es schon Mittag, als sie aus dem Wald hinaus auf die Wiese oberhalb des Felsens traten. Althea überkamen die Erinnerungen mit einer Plötzlichkeit, dass sie die Augen schließen musste. Hier waren Phelan und sie damals um die Wette geritten und sie einfach durch den Ring gerannt, eine folgenschwere Tat. Ein weiteres Bild drängte sich hoch, die Wiese voller Zelte, die Menschenmassen beim Einheitsfest. Und gleich darauf, wie sie leer gefegt war und in unheimliches Licht getaucht, SEINEM Licht.
Die Kinder blieben geraume Zeit stehen und nahmen den Anblick in sich auf, während sie sich in düsteren Erinnerungen erging. »Sieh mal, Mama, sie haben eine runde Mauer. Warum denn das? Warum so weit draußen?«, fragte Faye neben ihr und holte sie zurück in die Gegenwart.
Althea folgte ihrem Finger. Tatsächlich, sie hatten eine Mauer gezogen. Na, so was! War die Macht des Ringes so schwach geworden? Aber nein, sie war nur kniehoch. Es sah eher aus wie eine Markierung, als wolle man verhindern, dass sich die damaligen Ereignisse wiederholten und einfach jemand hineinstolperte. Althea folgte dem Lauf der Mauer mit den Augen und entdeckte an der Straße, die aus der Siedlung hinauf zum Steinkreis führte, einen neuen Steinbogen. Zwei Gestalten in langen Gewändern standen dort Wache.
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