„Panne ist vielleicht übertrieben, aber es würde vieles vereinfachen, wenn ich dir egal wäre.“
„Was zum Beispiel?“, fragte ich.
„Alles.“
„So genau wollte ich es nicht wissen.“
„Es ist alles so fremd und unwirklich und so beunruhigend.“ Ich spürte, wie sich ihre Fingernägel in meine Unterarme gruben. „Sag mir, wie ich das bewältigen soll? Ich komm doch schon mit mir allein kaum zurecht.“
Welchen Ratschlag durfte ich ihr geben, zumal als unmittelbar Betroffener? In diesem Augenblick erschien mir nur diese eine Reaktion opportun: ich küsste sie. Ihre Lippen waren zugewandt, warm, weich und feucht, sie widersprachen den ambivalenten Sätzen, die sie Sekunden zuvor geformt hatten. Dieses Mal mundete es wie ein süßes Versprechen, nicht wie Kinderschokolade.
Ich dankte dem Schicksal und träumte mich in die soeben geborene Woche.
Meine Gefühlsampel war von Rot auf Gelb umgesprungen. Wollte ich nicht beim nächsten Grün über die Kreuzung fahren, hätte ich längst abbiegen, einparken oder den Motor abwürgen müssen. Wenn mich mein innerer Tacho nicht täuschte, hatte meine Zuneigung Fahrt aufgenommen. Mein rechter Fuß stand, wie mit Bleigewichten beschwert, auf dem durchgetretenen Gaspedal. Jetzt noch bremsen? Lena allein konnte die Weiterfahrt boykottieren. Ich zweifelte indes nicht daran, dass wir dieselbe Richtung hatten.
Ihr Geständnis hatte Unsicherheit verraten. Ausschlaggebend, so fand ich, war ihre Körpersprache, der ich mehr Zutrauen entgegenbrachte, als ihren unüberhörbaren „Bedenken“, die jenen ähnelten, die ich dabei war, über Bord zu werfen.
Ich bin kein Frauenversteher und maße mir nicht einmal ansatzweise an, zu wissen, wie eine Frau denkt oder fühlt, aber die menschliche Chemie ist ein Wunder der Natur. Wenn Zwei sich riechen können, dann ist im Geringsten Sympathie im Spiel. Wer meine hormonellen Botenstoffe empfangen, dechiffrieren und erwidern kann, ist mir wichtig, ist auserkoren, zur guten Bekannten, Freundin oder, in Sonderheit, zum Lieblingsmenschen zu werden.
Mein Entschluss stand fest: Ich wollte auf sie achtgeben und ihr beistehen, sofern sie es zulassen würde. Die Begleitumstände, ihre Krankheit, ihre Familie und die Schlammschlacht mit ihrem intriganten Mann, schreckten mich nicht. Ich war und bin nicht der Beschützertyp, den sich viele Frauen vermeintlich wünschen, aber ich billige mir in aller Unbescheidenheit zu, dass ich Geborgenheit und Wärme zu schenken vermag, nicht vorrangig durch Sprache, sondern durch emotionale Präsenz.
Am späten Montagnachmittag schellte es Sturm. Ich musste nicht den Türgucker bemühen, um zu wissen, wer draußen stand.
„Hallo“, sagte Lena, ihr bewölkter Gesichtsausdruck und zwei schmale, parallel zwischen den Augenbrauen verlaufende Fältchen kündigten neue Komplikationen an.
„Ich bin ein wenig neben der Spur und brauche schon wieder deine Hilfe.“ Sie gab sich schuldbewusst. „Mein Vater hat mich hergebracht, und ich doofe Kuh habe meinen Autoschlüssel vergessen. Jetzt ist er wieder weggefahren. Kannst du mich bitte zu meinen Eltern bringen?“
„Schon wieder ein Schlüsselerlebnis“, sagte ich belustigt. „Komm rein. Ich bringe dich nachher, wohin immer du willst.“
„Vergebung, aber es müsste jetzt sein. Sei mir nicht böse, aber um 19 Uhr beginnt der Elternabend für die Zwillinge und um dahinzukommen, brauche ich den Wagen.“
„Klar doch. Ich bin ein Menschenfreund und für meine Nächstenliebe …“
„… stadtbekannt“, ergänzte sie. „Ich mache es wieder gut.“
Auf der Fahrt war sie auffallend einsilbig, so als müsse sie abwägen, ob und wie etwas Bedeutungsvolles zu artikulieren sei. Ihre Unbeschwertheit war verschwunden, ihre Augen fixierten die Windschutzscheibe, gleichsam als erhoffe sie, dass dort ein durchlaufender Text, wie auf einem fiktiven Teleprompter, ihr die Wortfindung abnähme.
„Jetzt möchte ich Gedanken lesen können“, sagte ich. „Was geht vor hinter deiner hübschen Stirn?“
„Du gehst vor“, entgegnete sie unerwartet. „Du gehst vor und zurück, hin und her, auf und ab.“
„Und? Tut’s weh?“
„Erspar mir bitte deinen Sarkasmus. Aber wenn du schon fragst, es ist wie bei einer fortgeschrittenen Schwangerschaft, wenn der Fötus gegen die Bauchdecke tritt.“
„Eine sehr embryonale Parabel und nicht grade eine hochwertige Sympathiebekundung.“
„Ach, du“, sie legte eine Hand auf meinen rechten Arm, „sei nicht gekränkt, es ist halt eine schwierige Geburt. Ich kriege dich nicht aus meinem Kopf, und ich begreife nicht, was da in mir vorgeht. Ich war so perfekt eingesponnen in meinem Kokon und jetzt du: Konfusion! Herzrasen! Schweißhändchen und zittrige Knie!“
„Vielleicht kannst du mich noch abtreiben.“
„Zu spät.“ Beredte Pause. „Um im Jargon zu bleiben, du warst kein Wunschkind, ich habe dich nicht gesucht und nicht von dir geträumt. Ehrlich, ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, umsonst: Ich habe mich in dich verliebt, ratzfatz, einfach so! Das war in meinem Mikrokosmos nicht vorgesehen, das musste ich erst mal wollen dürfen und richtig einsortieren. Verstehst du das?“
Wir stoppten bei Rotlicht vor einer Kreuzung.
„ Liebe ist wie eine Sanduhr: Das Herz wird immer voller, aber der Kopf immer leerer “, rezitierte ich. „Ich war ähnlich unentschlossen, aber seitdem ich dich getroffen habe, kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich habe mich in dich verliebt, ratzfatz, und ich wünsche mir, dass wir zusammenbleiben.“
Wahrscheinlich hätte es eine klügere Formulierung für die nun folgende Frage gegeben. „Haben wir eine Perspektive?“
Ich war schon ein seltsamer Vogel. Vorgestern noch auf dem Singletrip, heute mit staksigen Beinen auf einem zaghaften Zweierkurs, der, kaum beschritten, nach Verbindlichkeit strebte. Bei aller Gewogenheit und so wenig ich mich vor Unwägbarkeiten fürchtete, in dieser Situation gedachte ich nicht, ihr x. von y Problemen zu werden.
Lena reagierte abgeklärt, wenn auch leicht pathetisch: „ Der Weg ist das Ziel“, sagte sie. „Lass uns losmarschieren und sehen, wie weit wir kommen und wohin es uns verschlägt.“ Ihre niedlichen Grübchen enthüllten Zutrauen und Herzenswärme.
Bei einem satten Ampelgrün starteten wir Händchenhaltend auf den ersten Kilometer unserer gemeinsamen Route. Mehr Symbolik ging nicht.
Inmitten des abendlichen heute-journals lärmte die Türglocke. Wenngleich sie sich nicht angekündigt hatte, wäre ich enttäuscht gewesen, hätte nicht Lena den Klingelknopf traktiert.
„Komme ich ungelegen?“, fragte sie. „Hätte ich vorher durchrufen sollen?“
„ Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn er der schönen Nachbarin gefällt “, deklamierte ich.
„Ich kann auch wieder gehen.“
„Hier geblieben.“
Was für eine Frau! Um bei dem Bild, das sich mir darbot, nicht ins Schwärmen zu geraten, hätte ich eine Sehschwäche haben und blutleer sein müssen.
„Du verschlägst mir den Atem“, sagte ich.
Sie trug ein figurbetontes, hellblauses, stoffarmes Minikleid, einen Hauch von Wenig. Darüber einen offenen Jeans-Bolero mit halben Ärmeln. Hinreißend, sexy, verlockend. Wäre ich spottsüchtiger gewesen als ich bin, hätte ich fragen müssen, ob sie einen Waffenschein besäße.
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