Aber wehe, das Kind kommt mit schmutziger Kleidung nach Hause: „Die Lackschuhe waren ganz neu! Die sollte sie noch zur Silberhochzeit meiner Eltern anziehen. Und die haben 90 Euro gekostet! Können Sie uns das ersetzen?“
Ja ja. 90 Euro für Lackschuhe, aber keinen Cent mehr übrig für Gummistiefel. Was für eine Generation zogen diese Eltern da heran? Und konnten sie in der Kita das Schlimmste verhindern oder war sowieso schon alles zu spät? „Bloß nicht drüber nachdenken.“, murmelte Regina und öffnete ihr e-mail-Postfach.
8. Kreiskirchenamt Minden
Mit letzter Kraft nahm Katharina Förster die Stufen zum 1. Stockwerk des Kreiskirchenamtes, um halbwegs pünktlich zur monatlichen Dienstbesprechung im Jugendreferat einzutrudeln. Sie hatte die Fahrtzeit mal wieder zu knapp kalkuliert und kam fünf Minuten zu spät. Alle waren schon da: der kreiskirchliche Jugendreferent Kai-Uwe Kehrer, ausgeschlafen, blitzsauber und aufgeräumt wie immer, der Kollege Jens Carstensen für Porta Westfalica und die Kollegin Hilke Sander für die Stadtrandgebiete, die sie immer verständnisvoll anlächelte, aber heimlich für ihre Unzulänglichkeit verachtete. Außerdem war der Jugendpfarrer Paul-Gerhard Solms dabei und in Vertretung des verstorbenen Superintendenten Pfarrer Sebastian Reimler, der Assessor.
„Entschuldigung“, murmelte Katharina und versuchte möglichst wenig Aufhebens zu machen, als sie sich setzte, was ihr aber nur unzureichend gelang. Hilke stellte ihr fürsorglich einen grünen Tee hin und zupfte dann – ganz die große Schwester in Christo – ein langes Haar von Katharinas Pullover. Dafür hätte sie ihr am liebsten den Tee ins Gesicht gekippt.
„Dann will ich mal mit meinem Anstoß zum Tage beginnen.“, meldete sich Paul-Gerhard Solms zu Wort. „Angesichts der Sprachlosigkeit, die der gewaltsame Tod unseres Superintendenten in uns allen auslöst, möchte ich euch eine Beileidskarte vorlesen, die ich gestern in der christlichen Buchhandlung gefunden habe. Und wenn ihr einverstanden seid, würde ich sie gern für diesen Kreis an Frau Volkmann schicken.“
Ein allgemeines, stummes Nicken interpretierte Pfarrer Solms folgerichtig als Zustimmung und er las das Gedicht auf der Karte vor:
Du fragst warum?
Ich weiß es nicht.
Gibt’s einen Grund,
einen tieferen Sinn?
Wohl kaum.
Wir können's nicht begreifen
und wollen auch nicht,
Nein!
Wie kann das sein?
Wie kann ein Gott aus unserer Mitte reißen,
was eigentlich hier her gehört?
Was handelt er so unerhört?
Wird uns die Antwort schuldig bleiben,
wie für so vieles andere Leiden
bis zu dem Tag, an dem für uns
die Welt vergeht.
Das Schweigen im Raum war weniger andächtige Stille als vielmehr der angehaltene Atem angesichts der ungeheuerlichen Heuchelei, derer sich alle gemeinsam schuldig machten. Katharina hätte Frau Volkmann am liebsten geschrieben:
Verkaufen Sie Ihre garstige Klinkerhütte, fangen Sie irgendwo weit weg ein neues Leben an, feiern Sie wilde Parties und vergessen Sie das Arschloch. Herzlichen Glückwunsch!
Aber so etwas tut man ja nicht. Und woher wollte sie wissen, was für ein Ehemann er gewesen war und wie seine Frau zu ihm stand? Aber Katharina fand Volkmanns Tod nicht bedauerlich und auf die Frage nach dem Warum fielen ihr viele Antworten ein. Sie wusste, dass sowohl ihr Kollegenkreis als auch der Jugendpfarrer das ebenso sahen wie sie. Selbst Sebastian Reimler, die alte Sackratte, rieb sich innerlich die Hände, weil er jetzt die Chance hatte, sich als Superintendent zu beweisen, der elende Wichtigtuer. Trauer empfand hier niemand; bestenfalls Entsetzen angesichts eines Gewalt-Verbrechens und vielleicht ein bisschen Mitleid mit der Witwe und eventuellen Kindern. Hatte Volkmann eigentlich Kinder? Bestimmt, evangelische Theologen pflanzten sich ja in geradezu unanständiger Weise fort. Trotz ihrer Bedenken unterschrieb Katharina schweigend die Beileidskarte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Kai-Uwe eröffnete die Sitzung mit der Aufzählung der Tagesordnungspunkte.
„Zu Beginn sollten wir uns aber schon Zeit für eine kurze Reflexion unseres letzten Jugendgottesdienstes nehmen!“, wandte Hilke ein.
„Meinetwegen“, antwortete Kai-Uwe versöhnlich und nahm den Punkt in die Tagesordnung auf.
Reimler räusperte sich und sagte: „Ich würde meinerseits darum bitten, den Tagesordnungspunkt Finanzen an den Anfang zu legen, weil ich zur Zeit, wie Sie alle begreifen werden, terminlich äußerst eingespannt bin. Ihre Alltagsgeschäfte werden Sie ganz sicher auch ohne mich meistern, Sie sind ja schließlich alle Profis.“
„Die kurze Reflexion des Jugendgottesdienstes würde ich aber schon an den Anfang stellen.“, widersprach Paul-Gerhard Solms. „Sonst geht alles zu sehr durcheinander. Das dauert ja auch nicht lange. Wäre dieser Kompromiss für alle tragbar?“
Als niemand widersprach, erhob Hilke das Wort: „Dann berichte ich unserem neuen Superintendenten mal vom letzten Sonntag; alle anderen waren ja auch dabei. Wir hatten uns für den aktuellen Kreuzweg der Jugend entschieden – die Bilder waren von einer Hamburger Künstlerin, die Musik von verschiedenen Liedermachern aus der Kirchentagsszene. Statt die Bilder wie üblich mit dem Beamer auf die Leinwand zu projizieren, haben wir die Kreuzwegsstationen aufgebaut, wo die Bilder als Plakate hingen und darüber hinaus die Möglichkeit bestand, aktiv zu werden: Salbung, Fußwaschung, Abendmahl et cetera. Es waren circa sechzig Jugendliche da und die Atmosphäre war sehr intensiv.“
„Also meine Jugendlichen waren von der Atmosphäre weniger begeistert.“, widersprach Jens Carstensen. „Mit guten Hiphoppern hätten wir mehr Leute hinterm Ofen vor locken können und dann würden die, die da waren, auch beim nächsten Mal wieder kommen.“
„Na ja“, gab Katharina zu bedenken. „Die Zeiten, wo jeder gerappte Songs cool fand, sind aber auch schon wieder vorbei. Wenn du mit evangelischen Hiphoppern aufschlägst, haben die Jugendlichen schnell das Gefühl, dass man sich anbiedern will. Außerdem ist der christliche Musikmarkt eh' schnell abgegrast. Das meiste ist nur schwer zu ertragen. Man hat den Eindruck, die Musiker denken, ist zwar nicht so super gut, aber macht ja nichts, ist ja immerhin für Jesus. Vielleicht sollte man sich mehr bei den aktuellen Charts bedienen, wenn man die Jugendlichen wirklich erreichen will.“
„Nun, sie sollten in einem Gottesdienst aber schon geistliche Lieder singen.“, widersprach Reimler spitz. „Oder wollen Sie statt der Predigt aus dem kommunistischen Manifest lesen, die Psalmen durch Brecht-Gedichte ersetzen und an Stelle des Abendmahls den Pizza-Service bestellen?“
„Sachte, sachte.“, beschwichtigte Solms ihn. „Man könnte ja auch mal ein kirchenmusikalisches Projekt mit Jugendlichen in Angriff nehmen. Konzerte besuchen oder einen evangelischen Song-Contest mit Musikvideos veranstalten. Wenn wir es schaffen, dass die Jugendlichen ihre eigene Musik auswählen, dann bekommen wir die Jugend-Gottesdienste auch sicher wieder voller.“
„Vorausgesetzt, der Pool christlicher Musik gibt das her.“, gab Katharina zu bedenken. „Die Frage ist doch, wen und was man mit diesen zentralen Groß-Gottesdiensten mit Event-Charakter eigentlich erreicht. Wollen wir Jugendliche mit der Droge geistliche Erbauung anfixen und uns wie die Dealer immer neue Kicks ausdenken oder wollen wir Jugendlichen helfen, einen Zugang zum christlichen Glauben zu finden, der sie im Alltag trägt? Das funktioniert meines Erachtens aber viel besser über kleinräumliche Angebote. Verlässliche Gruppen in überschaubarer Anzahl an leicht erreichbaren Orten, da, wo untereinander Vertrauen entstehen kann. Und wenn diese Gruppen dann gelegentlich ein Event brauchen, um frischen Wind, auch auf geistlicher Ebene, in ihren Kreis zu lassen, dann muss das nicht jeden Monat auf mittelmäßigem Niveau stattfinden, dann reicht es vielleicht zwei bis drei Mal im Jahr, aber dann im ganz großen Stil: Kirchentag, Jugendfreizeit oder Jugendevent auf landeskirchlicher Ebene. Wir sind wie die Hamster im Laufrad: Wir machen immer mehr und erreichen immer weniger.“
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