1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 „Darauf würde ich mich nicht verlassen.“, gab Paul-Gerhard zu bedenken. „Du vergisst, dass in der Synode eine Menge ehrenamtlicher Presbyter sitzen, die über viel zu wenig Einblick verfügen. Die lassen sich prima um den Finger wickeln. Und im Pfarrkonvent regiert die Trägheit der Masse. Wenn Reimler geschickt ist, dann tritt er nicht allzu vielen Kollegen auf die Füße und bevor sie sich einen unberechenbaren Neuling vor die Nase setzen lassen, wählen sie lieber den kleinen, dicken, doofen Sebastian, von dem sie glauben, dass sie ihn ihrerseits ganz leicht um den Finger wickeln können und dass er sie in Ruhe lässt. Die waren schon so blöd, Volkmann zu wählen, da werden die auch Reimler nicht verhindern.“
„Aber hat beim Stellenplan in der Jugendarbeit nicht auch die Landeskirche noch ein Wörtchen mitzureden?“, fragte Katharina.
„Unwesentlich.“, sagte Jans Carstensen. „Kürzen können die jederzeit; nur nicht einfach betriebsbedingt kündigen, dafür sind einfach noch zu viele Rücklagen da.“
Katharina seufzte. „Also gut. Ich halte Ausschau nach einer Perspektive bei einem anderen Träger, aber wollen wir nicht mal langsam unsere Tagesordnung abarbeiten? Ich will nicht noch heute Nachmittag hier sitzen.“
Kai-Uwe grinste: „Ja,ja. Kathis heiliger, freier Mittwoch Nachmittag. Was treibst du da eigentlich so?“
„Hemmungslosen Sex mit meinen Haushaltsgeräten. Noch Fragen?“, antwortete Katharina schnippisch und erntete derbes Gelächter von den Männern. Hilke schüttelte indes fassungslos den Kopf. Doch Kai-Uwe nahm Katharinas Vorschlag ernst und führte weiter durch die Tagesordnung, so dass alle die Gelegenheit hatten, in Ruhe zu Mittag zu essen. Katharina suchte ihr Lieblingscafé auf, wo tägliche wechselnde, vegetarische Tagesgerichte aus biologischem Anbau angeboten wurden. Diesen Luxus gönnte sie sich nur selten, aber der freie Mittwoch Nachmittag alle vierzehn Tage musste feierlich zelebriert werden angesichts der voll gestopften Nachmittage und Abende während der restlichen Woche und der vielen Dienstwochenenden.
Der Erholungswert wurde ein wenig beeinträchtigt durch die schäbige Aussicht auf das dem Café gegenüber liegende Gebäude. Es war eingerüstet und der Café-Betreiber beklagte sich über Baulärm, der den ganzen Vormittag über angehalten hatte. „Wird total entkernt, der erste und zweite Stock.“, erklärte er.
„Wieso das denn?“, fragte Katharina.
„Ausstellungsräume, Museum, was weiß ich.“, erklärte er gelangweilt.
„Interessant.“, bemerkte Katharina.
9. Kreispolizeistelle Minden
Keller saß schon 20 Minuten an seinem Schreibtisch, den man ihm an seinem vorübergehenden Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt hatte, als Kerkenbrock schwungvoll und bester Laune das gemeinsame Dienstzimmer betrat, um nicht zu sagen, sie rauschte herein. „Guten Morgen.“, flötete sie. „Und? Wir haben hier einen spannenden Fall, habe ich gehört?“
„Proben Sie für eine Rolle im TATORT?“, fragte Keller sie herablassend.
Kerkenbrock grinste breit: „Mit meiner Praxiserfahrung hätte ich sicher super Chancen.“
„Welche Praxiserfahrung?“, nuschelte Keller mit gespielter Heimlichkeit, aber unüberhörbar.
Sabine Kerkenbrock stemmte die Hände in die Hüften. „Jetzt seien Sie mal nicht so stinkstiefelig. Ich habe schon gehört, dass Sie die Ehefrau informieren mussten. War es sehr schlimm?“
„Nein, nein“, antwortete Keller gelassen, „Sie hat nicht mit übertriebenen Gefühlsausbrüchen reagiert und ist auch nicht ohnmächtig oder verrückt geworden. Ich lese gerade die Protokolle, die die Kollegen gestern aufgenommen haben, im Kreiskirchenamt und in der unmittelbaren Nachbarschaft. Vielleicht stellen Sie schon mal einen Routenplan zusammen für die Freunde und Verwandten, die wir heute abklappern müssen. Ist bestimmt total spannend.“
Wortlos reichte Keller Kerkenbrock das Adressbuch, sie nahm es seufzend entgegen.
Seine junge Kollegin ging Keller fürchterlich auf die Nerven. Sie war sehr hübsch, sich dieser Tatsache aber auch voll bewusst. Ihre wilde, goldblonde Lockenmähne knetete sie meistens mit irgendwelchen Haarpflegepräparaten in Form. Ihr Teint war stets von so gleichmäßigem und makellosem Karamellbraun, dass er sie des regelmäßigen Solarium-Besuchs verdächtigte. Ihr Körper war durchtrainiert und wohlgeformt, für Kellers Geschmack etwas zu mager. Sie trug stets dezentes Make-up, aber sie erschien nie ungeschminkt zum Dienst. Sie gehörte zu dieser Generation notorisch gut gelaunter, auf- strebender, junger Menschen mit einem grenzenlosen Selbstbewusstsein, das jeglicher Grundlage entbehrte. Sie glaubten, nur weil sie jung, fit und wohlgestaltet waren, könnten sie alles schneller und besser erledigen als die abgehalfterten, frustrierten alten Säcke. Alles, was das Leben schwierig machte, existierte nicht für sie, sie ignorierten es. Aber wenn sie dem geballten Elend einmal wirklich nicht aus dem Weg gehen konnten, ging ihre viel beschworene Belastbarkeit in den Keller. Sie heulten Rotz und Wasser, setzten alles daran, sich zu entziehen und begründeten das später betont sachlich-professionell mit Sätzen wie: „Ich muss mich schützen.“
Jetzt saß sie da, tippte und telefonierte im Turbotempo und war doch in ihrem Eifer nicht effektiver, als wenn sie alles in Ruhe abgearbeitet hätte. Aber sie musste ja ihre Hochleistungs-Show abziehen. Wahrscheinlich verbrannte sie damit zusätzliche Kalorien, damit das Müsli im probiotischen Halbfett-Joghurt nicht ansetzte. Keller konzentrierte sich wieder auf die Aussagen auf seinem Bildschirm. Es gab wirklich überhaupt keinen Hinweis auf eine verdächtige Person in der Nähe des Tatorts. Immerhin hatte die KTU Fingerabdrücke am Tatort gesichert, aber ohne Verdächtige war das wenig hilfreich.
„Was meinen Sie, Keller“, sagte Sabine Kerkenbrock nachdenklich, „suchen wir eine Täterin? Ein Opfer sexueller Übergriffe?“
„Möglicherweise“, erwiderte Keller. „Könnte sich aber auch um einen männlichen Rächer handeln. Haben Sie den Bibeltext gelesen, den man bei der Leiche fand?“
„Nee. Was ist das denn für ein Text?“
„Eine Geschichte. Eine Nomadenfamilie lagert vor den Toren einer Stadt. Irgendwie gerät eine der Töchter in die Fänge männlicher Stadtbewohner und wird zum Opfer einer Mehrfachvergewaltigung. Die Brüder des Opfers beschließen, sich an der ganzen Stadt zu rächen. Sie heucheln Versöhnungsbereitschaft, fordern, dass einer der Täter ihre Schwester heiratet, um ihre Schande auszulöschen und schlagen den Tätern als Zeichen ihrer Ergebenheit einen Übertritt zu ihrer Religion vor. Die Bewohner der Stadt, froh, so glimpflich davon gekommen zu sein, willigen ein und alle Männer der Stadt lassen sich zum Zeichen des Übertritts beschneiden, also ein Stück der Vorhaut entfernen. Durch den Eingriff stellt sich das übliche Wundfieber ein, das die Männer schwächt; und diesen Moment nutzen die Brüder, um alle männlichen Bewohner der Stadt niederzumetzeln.“
„Die Schandtat an Dina und das Blutbad zu Sichem.“, fasste Sabine Kerkenbrock fachfraulich zusammen. „Es handelte sich übrigens nicht um irgendeine Nomadenfamilie, sondern um die Familie Jakobs, dessen zwölf Söhne als die Gründer der zwölf Stämme Israels gelten. Nach dieser Aktion musste die Familie panisch flüchten, um nicht ihrerseits Opfer von Blutrache zu werden. Das hatte zur Folge, dass Jakobs hochschwangere Lieblingsfrau Rahel Schaden nahm und in der Folge bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin starb.“
„Kerkenbrock! Ich wusste gar nicht, dass Sie so bibelfest sind. Sind Sie eine entlaufene Kirchenmaus?“
Sabine Kerkenbrock grinste. „Falls Sie mein Elternhaus meinen, da ging es ziemlich neutral zu. Aber ich war jahrelang in der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit unterwegs. Die Geschichte habe ich mal auf einer Freizeit kennengelernt, und sie hat mich sehr beeindruckt.“
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