1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Dieser winzige Unterschied zwischen der lebendigen und der toten Materie, lebenspendender Erde oder sterilem Staub, der zu Stein gerinnen wird: Es könnt einen wahnsinnig machen. Ich mein, nichts gegen Steine. Gar nichts.
Der Bus hält in Ramsau auf dem Marktplatz. Endstation, zumindest für ihn. Die Touristen werden hoch auf den Berg fahren, bis zur Seilbahn und dann auf den Gipfel. Der Berg ruft, je nachdem, ob sie sich bei dem Nebel trauen. Der kann aber genauso gut jeden Moment verschwinden.
Die Bäuerin steckt ihr Puzzlespiel weg, schlurft grußlos nach vorn, steigt aus, verliert sich im Gewühl zwischen den Gemüseständen des Bauernmarktes.
Den Strohhut auf dem Kopf und die Reisetasche in der Hand, mischt sich Cord unter die Leute. Die frisch gewaschene Schlossermontur soll darauf schließen lassen, dass er nicht nur zum Spaß hier herumläuft. Nur nicht auffallen. Einheimische sind eh uninteressant. Touristen beachten am liebsten die Frauen im klassischen Dirndl. Gut so.
Für ein paar Schilling kauft er an einem Marktstand eine Tüte Äpfel und macht sich auf den Weg. Den letzten Teil wird er zu Fuß absolvieren, allein für den Fall, dass er beobachtet wird. Also drei Bushaltestellen auf Schusters Rappen bis zur Haltestelle mit dem sinnigen Namen «Heimat», gleich hinter Filzmoos.
Auf eine Weise fühlt er genau, warum er nur noch hierhin gehen kann, will und muss. Die letzte Station seines Lebens.
Intuitiv, was ist das eigentlich, Papa?, fragte Hanneken. Erfahrung, mein Engel. Erfahrung, und immer schön üben.
Raumer, der Retter, rief passend einen Tag nach dem Tod von Bulgakov an, als er bereits auf der gepackten Reisetasche saß und nicht wusste, wohin mit sich. Der Schweizer war nach den Besprechungen in Graz zu einer Art Freund geworden. Einmal konnte er den Chef bei einem Besuch dorthin begleiten. Raumer hatte in seiner Heimat mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie Bulgakov. Er hatte einen Stromerzeuger besonderer Art zustande gebracht, der gerade von einigen Akademikern und Publizisten heiß diskutiert wurde. Weil Raumer in einer christlichen Kommune lebte, die er selbst auf die Beine gestellt hatte, wählten die Bewohner und Bewohnerinnen in Lindenberg eine andere Methode der Publikation: sie gestatteten ausschließlich befreundeten Wissenschaftlern, auf den Generator zu blicken und ihn zu untersuchen. Im Übrigen beließen sie alles in der Schwebe, indem Raumer das Gerät kaum jemandem zeigte, er sich auch der Allgemeinheit weitgehend verweigerte, beglich dafür aber ordentlich alle Stromrechnungen der Gemeinschaft. Er hatte sich davon befreit, der Öffentlichkeit etwas beweisen zu wollen.
Natürlich versuchten Staat und Elektrokonzerne, ihn mundtot zu machen, klagten ihn an wegen sexueller Verfehlungen mit Minderjährigen. Van Galten konnte nichts dazu sagen. Ihm erschien Raumer bis auf seine obskuren religiösen Vorstellungen stets tadellos und integer.
Als Bulgakov in Graz von der Erfindung hörte, suchte er ihn unverzüglich in Lindenberg auf, bot Kooperation an, wollte sogar in die christliche Kommune eintreten. Mit Engelszungen versuchte er, Boden zu gewinnen, bemühte sich eindringlich, den Schweizer zu überreden, mehr mit der Presse zu kooperieren und wie er selbst auch die Öffentlichkeit als Schutz zu nutzen. Aber Raumer blieb gänzlich konsequent und hartnäckig. Und lebendig, wie zu hoffen war, noch lange.
Raumer war es, der ihm nahe legte, nun schnell die Beine in die Hand zu nehmen und nach dem Mord an Bulgakovs umgehend Graz zu verlassen. Untertauchen.
Cord knüpft den Overall zu. Wenn man am späten Nachmittag in den Schatten des Berges gerät, differieren die Temperaturen bisweilen um 20 Grad.
Es kann so kalt werden, dass man sich spielend sogar im Hochsommer erkältet.
Am Wegesrand entdeckt er einen verwaisten, knorrigen Stock, nicht zu dick, doch belastbar genug, ihn beim Wandern zu stützen. Ein Biss in den Apfel.
Die guten Innovatoren, die Vordenker: Falls es den wenigen Auserwählten gelang, in unbekannte Bereiche vorzustoßen, standen sie sofort unter Beobachtung. Die konservativen Kollegen diffamierten sie zu gerne. Raumer hatte davor gewarnt. Dies war die konzentrierte Wahrheitspille und die Summe eines Lebens aus 50 Jahren, in denen er innovative Entwickler unterstützte und begleitete. Die Leute, denen er den Rücken stärkte, von denen er lernte, für die er sich einsetzte: Man brachte sie einfach um. Schluck das, Max.
Der Apfel schmeckt bitter; ein Wurm hat sich seinen Weg bis ins Kerngehäuse gebahnt, nicht erkennbar von außen, aber überaus präsent und lebendig. Cord spuckt aus, wirft die wurmige Frucht fort.
Was, wenn man sich gleich von Anfang an mit der menschlichen Vergänglichkeit, dem Ende, beschäftigte, sich quasi von hinten nach vorn arbeitete, einen Raum beträte, in dem die innere Perspektive nicht mehr auf falsche Hoffnungen, auf neues Leben, sondern allenfalls auf ein würdiges Ableben ausgerichtet wäre? Könnte, würde das die Ausgangssituation verändern?
Eine gute Frage und ein letzter Testfall für diese Inkarnation. Van Galten beschleunigt seinen Schritt, brummt dabei zufrieden in sich hinein. Genau hier findet der erweiterte Versuchsaufbau statt, die finale Frage, die es zu beantworten gilt. Ein Langzeitexperiment – hoffentlich.
Arbeiten, so teilte ihm Raumer am Telefon mit, müsse er nicht viel. Halt nach dem Rechten sehen, Glühbirnen auswechseln, verstopfte Abflüsse reinigen, ein bis zweimal am Tag im Heizungskeller die Anlage überprüfen.
Die Haltestelle «Heimat». Hier auf den Feldweg und dann noch einen knappen Kilometer auf das Bergmassiv zu bis zur letzten Biegung. Was hatte er gesagt: «Du wirst das Haus schon erkennen; ein aufgelassener Hotelbetrieb, durchaus heruntergekommen, aber nicht so sehr, dass es unangenehm auffällt.»
Cord nähert sich einem grauweißen, verfallenen Gebäudekomplex direkt am Fuß des Berges. Früher muss das Anwesen einmal ein schmuckes Hotel gewesen sein. Nun hat es seit mindestens zehn Jahren keine frische Farbe mehr gesehen. Nur wenige, allenfalls Einheimische, werden hier gern und freiwillig wohnen, wegen der latenten Lawinengefahr – eher Steinschlag, denn die Gefahr verringert sich inzwischen durch die milden Winter. Und im Endeffekt hat die Interessengemeinschaft dieses Landhauses nicht mehr allzu viel zu befürchten. Er auch nicht. Passt schon. Max kichert.
Über der Eingangstür hat jemand wie im Wilden Westen an zwei Ketten ein braunes Holzschild mit einer altmodischen Brandmalerei in Sütterlinschrift gehängt:
Niemand stirbt für sich allein.
Quietschend schaukelt das verwitterte, vom Wind zerfurchte Holzbrett hin und her. Eine Libelle fliegt auf das Hängebrett, setzt sich auf den i-Punkt von «allein». Na, dann.
Ist das so, fragt sich Cord, sieht vor sich noch einmal Bulgakovs aufgerissene Augen, die sich tief in sein Herz eingebrannt haben, holt tief Luft. Unwillkürlich überkommt ihn erneut dieses Gefühl, immer plastischer und eingängiger, in dem er sich selbst wiedererkennt: dass dies hier seine letzte Station sein wird. Hoffentlich. Er ist müde. Und an einem Ort angekommen, den er, wie die meisten anderen hier, nurmehr in der Horizontalen verlassen wird. Wahrscheinlich. Aber noch ist nicht aller Tage Abend.
Bevor er die drei Holzstufen erklimmt, um an der Glocke zu läuten, öffnet sich die Tür und eine adrette, junge Frau steht lächelnd im Rahmen. Ui! So viel sympathische Jugend, damit hätte er gerade hier nicht gerechnet.
«Grüß Gott, die Kirchgasser Marlene bin ich; Sie müssen Max, der neue Hausmeister, sein. Herr Raumer hat Sie avisiert. Wie war doch gleich Ihr ganzer Name?»
«Nennen’S mi einfach nur Max, gute Frau! Passt scho.»
Marlene Kirchgasser tritt einen Schritt zurück und öffnet weit das Portal. Für einen Moment schließt Cord die Augen, wird sich bewusst, wo er sich befindet, spürt mit dem ersten Atemzug die heitere, glückliche Energie, – an einem Ort, der dem Sterben gewidmet ist.
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