1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Unmöglich zu sagen, ob das, was er fühlt, ein neuer Anfang oder schon das Ende ist. In jedem Fall ist es das, was er sich immer gewünscht hat. Er erahnt die außergewöhnlichen Erfahrungen, die er hier machen wird, kann sie gelassen vorwegnehmen, freut sich, lächelt verbindlich. Marlene blickt ihn offen und interessiert an, legt den Kopf leicht schief, berührt mit den Fingern das ägyptische Henkelkreuz an ihrer Halskette.
«Wenn Sie mögen, Max …, i hab soeben an frischen Kaffee gebrüht.»
Aber gerne doch. Die große Küche gefällt ihm. Anschließend lässt er sich von der Hospizschwester Marlene das Anwesen zeigen. Dann stellt sie ihn den Gästen vor. Gerade an die zwanzig Leute werden hier zurzeit betreut. Gegenwärtig sind es nur Senioren.
«Ja, mal mehr, mal weniger. Die Kinder gehen eh woanders hin», sagt Marlene, und er erkennt am Klang ihrer Stimme nicht genau, ob sie das bedauert oder nicht.
Die meisten Patienten hier, er soll «Gäste» sagen, hat Marlene ihm eingeschärft, schlafen oder dämmern vor sich hin. Andere betrachten ihn kurz oder länger – «Hallo, Max» – vergessen ihn aber sogleich wieder, zwei finden Gefallen daran, ihn kennenzulernen, allein wegen der Abwechslung. «Kommst zu uns, magst mit uns sterbn?», fragt ihn eine Dame lachend aus ihrem Bett heraus.
Wichtiger als die derben Scherze ist ihm die kleine, feine Hausmeisterwohnung gleich neben dem Schuppen, den sie vor Ort hochtrabend Wirtschaftstrakt nennen. Das Gästebett in dem Apartment bedeutet, dass Johanna am Wochenende hier wohnen kann. Wenn sie will. Na ja, später einmal, wenn sich der Lärm gelegt hat, vielleicht. Aber er wird ihr von dem neuen Wohnort und der interessanten Arbeit berichten.
Irgendwann.
Bald.
Eventuell.
Rein äußerlich betrachtet verändert sich der Tagesablauf von Max in der Ramsau nur wenig. Nicht vor dem dritten Jahr seines Aufenthalts. Doch entwickelt er einige schwer zu durchschauende Marotten.
Die siechenden Alten im Hospiz mögen ihn, das ist das Wichtigste. Gleich nach seiner Ankunft montiert er neue Glühlampen im gesamten Anwesen. Es wird viel gelacht. Ganz im Gegensatz zu seinem äußeren Auftreten – grauer Hausmeisterkittel, Holzschuhe, ein gelber Strohhut sommers wie winters – wirkt er auf Patienten und Pflegepersonal wie eine erlösende Lichtgestalt, ein ruhender Pol, dessen bloße Gegenwart Trost und Heiterkeit zu spenden vermag, obwohl er immer noch nicht viel spricht. Doch tun das die meisten der Kranken ebenfalls nicht, man verständigt sich eher wortlos.
Wie immer erhebt er sich morgens um fünf von der Pritsche der kleinen Hausmeisterwohnung, bereitet mit seinem angerosteten Tauchsieder einen Pulverkaffee, betrachtet im Sommer, wenn die Dämmerung bereits aufgezogen ist, mit fragenden Augen den Gipfel des Dachsteinmassivs, wird aus der Melange von Nebelschwaden und Lichtstimmungen in Verbindung mit der Analyse seiner Ohrgeräusche und dem aufkommendem Wind Schlüsse für den Tag ziehen. Eine Art Quersummenorakel.
Der Tag beginnt, wenn die Uhrzeiger eine senkrechte Linie bilden. Dann steht auch Max aufrecht, beginnt mit der Arbeit. Es ist genau 6 Uhr morgens.
Über den Kiesweg marschiert er zur Eingangstür, schließt auf, weil jederzeit jemand zum Sterben kommen könnte, schaut nach dem Licht, wie es gerade heute auf das Holzschild fällt, achtet auf Libellen, nimmt einige tiefe Atemzüge, horcht auf das sanfte Quietschen der Aufhängung.
Die wichtigen Tage, das sind immer die, wenn er nichts hört, - privater Erfahrungswert quasi. Dann schlüpft er in ein paar bereitstehende Mokassins, Strickstrümpfe mit Ledersohlen, die Marlene ihm gleich zu Beginn seines neuen Jobs überreicht.
Auf leisen Sohlen absolviert er seine Runde, jeden Tag dieselbe. Lautlos schleicht er an den Zimmern der Hospizgäste vorbei, hält vor der einen oder anderen Tür einen Moment inne. Bisweilen geht er in eines der Sterbezimmer, setzt sich still an ein Bett, ergreift für eine Viertelstunde schlafende Hände, tritt in einen stummen Dialog. Doch kann es auch anders kommen:
Als Erstes, wenn er ein Krankenzimmer betritt, schaut er, ob die Todgeweihte schlafen oder wachen, ihn gar erwarten. Möglich, dass Max ein kurzes Schwätzchen hält und sofort weiterzieht. Doch können sich auch andere, eigentümlichere Situationen einstellen, vor allem, wenn der Patient nicht bei Bewusstsein ist, halb im Koma seiner Transition entgegen dämmert.
Ein-, zweimal beobachtet Marlene Kirchgasser ihn heimlich vom Garten aus hinter dem Haus, wo sie in aller Herrgottsfrühe barfüßig meditierend durch den Tau läuft. Eigenartig, welcher Dinge sie da bei einem scheuen Blick durch die Fensterscheibe gewahr wird:
Wie auf Samtpfoten schleicht Max in dem ungewohnten Schuhwerk an das Bett, wo einer der Gäste, halb bewusstlos oder komatös, sein Ende erwartet. Eine halbe Stunde später würde sie selbst nach ihm sehen, aber Max ist an manchen Tagen einfach schneller. Ein Verhalten gleicher Art wird sie in Folge noch einige Male bei ihm beobachten:
Zu Beginn steht er nur in der Tür, verengt seine Augen zu Schlitzen, macht den Blick diffus und weit, als wolle er sich nicht durch eine falsche Fokussierung von Äußerlichkeiten ablenken lassen. Dann atmet er tief ein, öffnet Hände und Arme, den Raum umarmend, nimmt die Atmosphäre und die vorhandene Energie ganz in sich auf. Für gewöhnlich kennt er alle Gäste, ist bei ihrer Ankunft wie auch bei ihrer Transition zugegen.
Nicht, dass man hier von Freundschaft reden könnte – selbst wenn sich derlei bisweilen einstellt – es geht eher um sprachlose Nähe, die er zu den Dämmernden aufbaut, an Intimität weit über herkömmlichen Aspekten von Bekanntschaft. Zunächst betrachtet Marlene ihn mit kritischen, dann mit immer wohlwollenderen Blicken, wie nah Max mit seinen Gesten dem Wesen der Menschen kommt. Nähe und Wärme, darauf kommt es an. Das ist es doch, worum es hier geht!
Wenn er sich eingestimmt hat, schleicht er vorsichtig, die Hände leicht erhoben zu Antennen, auf den Schlafenden zu, befühlt in der Luft den Raum oberhalb des liegenden Patienten, dort, wo er noch etwas fühlen kann, ohne den Körper zu berühren; Wärme, Hitze, Kälte, ein Knoten, was auch immer. Schwer zu sagen, was genau er da tut, ob er in der Luft über den Sterbenden eine Art Astralkörper vermutet oder schlicht das Lebenszentrum des Menschen fühlt.
Als sie ihn einmal darüber zur Rede stellt, durchaus freundlich und tolerant gegenüber seinen morgendlichen Aktivitäten, redet er so unbeholfen wie kompetent von Energielöchern. Die sind eher kalt, sagt er, haben eine graue oder bläuliche Farbe, im Gegensatz zu Schwellungen, die auf knotenartige Entzündungen hinweisen. Die sind in der Regel heiß und rosa bis dunkelrot.
«Sprichst du von der Aura?», fragt Marlene ihn einmal.
«Woas i net. Aura, wos’n des?», antwortet er nur. Jegliche esoterische Begrifflichkeiten sind ihm fremd. Für ihn sind das alles «Elementare».
«Die wichtigsten Elementare», so sagt er und redet, als handele es sich um eine biologische Maschine, «halten sich immer direkt in der Nähe des Körpers auf. Sie greifen den Geist, wenn es soweit ist. Wann er auf die andere Seiten soll».
Irgendetwas ist da, gesteht sich auch Marlene Kirchgasser ein. Wenn Max so bei den Patienten steht, die Hände über ihrem Körper wie ein Tai-Chi-Meister bewegt, sieht es aus, als ob er etwas aus dem Energiefeld herauszieht, das die Leute umgibt, um anschließend aufkommende Wogen mit den Händen zu glätten – gerade so, wie man Falten aus einem Federbett streicht.
Nie verlässt er die schlafenden Hospizgäste, ohne beim Herausgehen die Handflächen aneinanderzulegen und sich stumm zu verneigen.
Woher hat er das nur?
In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass die Leidenden erwachen, es zu knappen einsilbigen Gesprächen kommt, die Max eher einschränkt als befördert. Etwa, wenn ein Patient keinen oder nur wenig Schlaf gefunden hat, angstvoll seinem bevorstehenden Ende entgegenfiebert, der Krebs oder die Schmerzen ihn die Nacht hindurch keinen Schlaf finden ließen.
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