Noch während ich die Vollzähligkeit meiner Truppe überprüfte, fast alle hatten den Minibus fluchtartig verlassen und waren im Garten hinter dem Haus verschwunden, stand plötzlich meine kleine Nichte Maria mit einem strahlenden Lächeln vor mir. Bevor ich mich versah, hatte ich ein Schild mit der Aufschrift "Berlin gratuliert zum Jubiläum!" in der Hand und meine Jungs wedelten wie Schulkinder mit kleinen italienischen und deutschen Fähnchen. Maria führte uns Richtung Dorfmitte und ehe ich es realisiert hatte, waren wir ein fester Bestandteil des gerade beginnenden Festzugs.
Direkt hinter uns spielte der Spielmannszug aus Poggibonsi einen italienischen Marsch und mit lautem "links, zwo, drei, vier” marschierten die angeschlagenen Großstadtbengel in alter preußischer Tradition und sichtbarem Spaß ("det jlobt uns keener!”) einer unbekannten Zukunft entgegen.
Wir waren vielleicht fünf Minuten unterwegs, statt Marschmusik dröhnte mir der Schädel nun von einem italienischen Schlager, da hatte meine kleine Armada von gestandenen icke!-Schreiern bereits intensiven Kontakt mit der vor uns laufenden Brigade der Landfrauen aufgenommen und gemeinsam versuchte man die musikalischen Vorgaben in mehr oder weniger rhythmischen Bewegungen auf der Straße umzusetzen. Auch die nicht mehr ganz taufrischen Damen in ihrer aufgedonnerten Haarpracht hatten anscheinend ordentlich vorgeglüht und standen den Großstadtjungs in nichts nach. Um nicht ganz den Anschluss zu verlieren, gab ich schon bald meinen Widerstand auf und ließ mich ebenfalls von den vielleicht etwas zu auffällig geschminkten Dorfschönheiten im gesetzten Alter mit Getränken aus der Region verwöhnen.
Das Trinken gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht, denn fast ständig schlug mir jemand auf die Schulter und bedankte sich für die "riesen Überraschung”, die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zum absoluten Sahnehäubchen unserer Bildungsreise gekürt wurde. Meine Beteuerungen, von diesem Spektakel absolut nichts gewusst zu haben, sorgten lediglich für ein noch breiteres Grinsen auf den Gesichtern und mehr Schulterklopfen.
Weiter ging es durch die Gassen vorbei an feierlich geschmückten Fachwerkhäusern und ausgelassenen Menschenmassen. In der Dorfmitte, direkt gegenüber der Kirche, in der ich vor ungefähr zweieinhalb Jahrzehnten getauft worden war, hatte man eine kleine Tribüne aufgebaut, die den lokalen und regionalen Würdenträgern den besten Ausblick auf die vorbeiziehenden Legionen der Festzugsteilnehmer bot. Schon von Weitem sah ich den rätselhaften Patienten mit seiner Heino-Brille im Gesicht und der ferrariroten DEKRA-Mütze auf dem schütteren Haupthaar. Das blühende Leben und fit wie ein Fußballschuh. Magenprobleme, Flotter Otto und so? Keine Spur.
Eingerahmt von der regionalen Show- und Politprominenz brachte er in seinem gewohnt stilsicheren Rustikalschick aus brauner Cordhose und gestreiftem Tchibo-Polo-Shirt die Tribüne mit seinen waghalsigen Tanzeinlagen fast alleine zum Beben. Der Grobmotoriker machte seinem Zweitberuf als bekennender Euphoriker wieder einmal alle Ehre.
Auch er musste mich schon erkannt haben. In seinen Händen hielt der Pädagogen-Tornado plötzlich ein Sitzkissen großes Pappschild mit der Aufschrift: Stockfeld – Berlin: 1 – 0. Einige Schritte weiter konnte ich dann auch lesen, was unser Pfundsopa in etwas kleinerer Schrift darunter geschrieben hatte: "1:0 – H. Zimmermann, 1. Spielminute”. Sein amüsiertes 300 Watt-Grinsen mit seinen schneeweißen Beißerchen wurde mit jedem Schritt breiter. Das verhieß nichts Gutes.
Jetzt hatte mich auch Oma Gisela erkannt und eilte die Tribüne hinunter um mich zur Begrüßung fast zu erdrücken.
"Heiliger Bimbam! Menschenskinder! Das gibt es doch nicht!”, schrie sie, drückte mühsam ihre Tränen weg und griff sich an den Busen. Sie war völlig von den Socken.
Oma, die Haare zum Dutt gebunden, schien tatsächlich nichts von unserem Besuch zu wissen. Der Familiengroßfürst mit dem herben Charme hatte wieder einmal alle ausgedribbelt. In bester Boris Becker-Manier ballte der Kukident-Wonneproppen mit jungmännlichem Furor die Fäuste und krächzte mir ein "Ciao Bello!” entgegen.
Sein Triumph war perfekt.
Oma schien immer noch nicht zu verstehen. Dafür verstand ich umso besser. Ich stellte der Großmutter der Herzen noch kurz die im Stechschritt herumstolpernde Reisetruppe vor und nach zwei Kirschlikör von ihren Freundinnen den Landfrauen machte sie sich wieder auf die Tribüne zu ihrem Rumpelstilzchen, dessen fulminante Solo-Einlage auf ihren Höhepunkt zusteuerte.
So langsam dämmerte mir, dass es mit dem ursprünglichen Plan, der einen zwei bis dreistündigen Aufenthalt im Hause meiner Großeltern vorgesehen hatte, nichts mehr werden würde und schleunigst wieder einmal ein Plan B aus dem Hut gezaubert werden musste. Und dies hatte möglichst zügig zu erfolgen, da ich meine Schäflein im Festzelt sehr wahrscheinlich nicht mehr würde einfangen können. Da konnte ich mich auf empirische Werte bei ähnlichen Veranstaltungen verlassen.
Aber Opa wäre nicht Opa-Controletti, wenn er nicht auch hier schon einige spontane Planungen in die Wege geleitet hätte. Um es kurz zu machen: Der Multitasker war wieder einmal auf Zack und hatte seinen gefliesten fast hundert Quadratmeter großen Fünf-Sterne-Garagenpalast mit integriertem Werkstattzentrum seit langer Zeit wieder einmal ausgemistet und mithilfe der örtlichen Reservistengruppe zu einem Biwak ausgebaut. Feldbetten, Matratzen, Kopfkissen, Decken, zwei Flaschen grappa di prossecco , einen Kasten Export, eine Kiste Sprudelwasser … der Delegator hatte wieder einmal an alles gedacht. VB-Präzisionsarbeit.
Es gab noch einige hastige Anrufe meiner Schützlinge nach Berlin, um unsere Verspätung bereits präventiv anzukündigen. Auch hier hatten einige bereits harte empirische Fakten gesammelt, die einen solchen Schritt als äußerst ratsam erscheinen ließen. Dank Feiertag und Brückentag musste auch niemand sein Veto für den verlängerten Boxenstopp in der oberhessischen Kulturmetropole einlegen. Spätestens da wusste ich, es war die richtige Entscheidung, diesem Ort früherer Prägung wieder einmal einen Besuch abgestattet zu haben.
"Ausjerechnet Schnellinger."
Klaus kurze, noch mit zusammen gekniffenen Augen geflüsterte Begrüßung am Morgen danach gab mir einen ersten zarten Hinweis darauf, wie sich der vorhergehende Abend entfaltet hatte. Offensichtlich kein Honigschlecken. Da ich relativ frühzeitig von meinem nicht gerade kleinen Verwandten- und Bekanntenkreis in Beschlag genommen worden war, hatte ich das Treiben der "Ehrendelegation aus Berlin” (O-Ton beim Einmarsch ins Festzelt) etwas aus den Augen verloren.
Zunächst war noch alles in geordneten Bahnen verlaufen. Im Festzelt hatten es die Delegierten tatsächlich wider Erwarten geschafft, sich um einen Festzelttisch zu versammeln. Dass die reifen Semester aus den Reihen der geselligen Landfrauen dafür etwas enger zusammengerückt waren, wurde in den nächsten Stunden mit spontanen Tanz- und Schunkeleinlagen, nicht ganz jugendfreien Trinksprüchen sowie unzähligen Verbrüderungsszenen mit gekreuzten Bier- und Weingläsern angemessen honoriert.
Die Stimmung war so gut, dass man zunächst gar nichts davon mitbekam, als es im Zelt leiser und leiser wurde. Es bedurfte mehrerer Ansagen und Aufforderungen an die "S ignore e Signori am tavolo dort hinten”, endlich vom Tisch zu steigen und sich auf ihre Plätze zu begeben ehe Cousin und Freund Roland die versammelte Festgemeinde souverän zweisprachig begrüßen konnte.
Für einige aus unserer Truppe kam die Begrüßung schon etwas leicht zu spät und vorgezogene Abschiedsworte hätten wahrscheinlich besser gepasst.
Wie bei jedem anständigen Jubiläum üblich, gab es auch an diesem Abend zahlreiche Auszeichnungen für verdiente Vereinsmitglieder. Oma Gisela, der Torschütze des 1 : 0 sowie einige andere "Frauen und Männer der ersten Stunde” bekamen aus den Händen des Landrats den Ehrenbrief des Landes Hessen verliehen, während Alessandro, Luigi und ihre Gattinnen von einer Vertreterin des italienischen Generalkonsulats in Frankfurt mit dem Ordine al Merito della Repubblica Italiana bedacht wurden.
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