Doch das änderte sich schlagartig, als er mich bei einem seiner letzten Anrufe, wir hatten gerade die Autobahn verlassen und das Panorama der Mittelgebirgslandschaft lag vor uns, eher beiläufig fragte, ob er mir schon erzählt habe, dass auch Alessandro und Luigi bereits in Stockfeld seien und sie sich riesig freuen würden, mich, den piccolo italiano , nach so vielen Jahren wieder einmal zu sehen. Sie wären gestern auch beim Spiel gewesen und hätten sich spontan entschieden, noch einen kleinen Abstecher in das dolle Dorf im Vogelsberg zu machen.
Die Kombination Alessandro, Luigi, Opa und das Wörtchen "spontan” ließ mich für einen kleinen Moment zusammenzucken und mit den Handballen auf das Lenkrad schlagen. Hierzu muss man wissen, dass wann immer unser Großvater das Wort "spontan” in den Mund nimmt im Familien- und Bekanntenkreis alle Alarmanlagen schrillen.
Spontan ist eigentlich kaum etwas bei ihm. Mit spontan beschreibt er gewisse Zusammenhänge von Ereignissen, von denen er weiß, dass sie in seinem Umfeld sehr wahrscheinlich nicht mit der gleichen Begeisterung aufgenommen werden, wie er sich das wünschen würde. Spontan soll eine gewisse Schicksalshaftigkeit suggerieren, auf die er natürlich auch keinen Einfluss nehmen kann.
Unterschwellig ist damit die Aufforderung verbunden, Verständnis zu zeigen und ihn für die Konsequenzen seiner wunderlichen Einfälle nicht verantwortlich zu machen. Im Zweifel ist er, das große Kind, Opfer der anderen. Er, die ehrliche Haut, der Meister des Unberechenbaren, kann nichts dafür, wenn etwas schief geht.
Die inoffizielle Familienchronik der Zimmermanns ist voll mit haarsträubenden Schnellschüssen, überhaupt nicht lustigen Scherzeinlagen und originellen Gedankenexperimenten des sprühenden und quicklebendigen Seniors, die meistens irgendwie spontan und nicht selten in einem Moment der Übernachtung beginnen und dann sehr schnell nach hinten losgehen und einen eher suboptimalen Ausgang nehmen.
Ein Blick in meinen Rückspiegel reichte aus, um mir schlagartig bewusst zu machen, welches Potenzial sich den spontanen Schnapsideen und Hirngespinsten des rüstigen Basalt-Brockens an diesem Abend bot. Ich sollte nicht enttäuscht werden.
"Jibb Jummi Francesco!”
Herbert F. Zimmermann, den Franz lässt er vor allem bei Europa- und Weltmeisterschaften raushängen, war natürlich nicht nur mein Opa. Er war mehr, viel mehr. Was er sonst noch war, verstand ich erst an seinem 60. Geburtstag so richtig. Eine Feier wie beim Baumarkt-Jubiläum.
Das ganze Dorf war auf den Beinen. Die Sport-und Mehrzweckhalle und der dazugehörige Parkplatz dienten als riesige Partyzone, zu der auch zahlreiche Honoratioren von außerhalb ihren Weg gefunden hatten. Die Heerschar der Gratulanten wollte kein Ende nehmen.
Der inbrünstige Mettbrötchen-Esser war unter anderem seit fast 20 Jahren Vorsitzender des Turn- und Sportvereins. Nach seiner aktiven Karriere als Fußballer, Leichtathlet (100 Meter Bestzeit 11.2 Sekunden, handgestoppt und noch heute Vereinsrekord!) und Turner (mehrmaliger Gau- und einmaliger Hessenmeister) scheuchte er als Trainer die TSV-Kicker über die Waldwege des Vogelsberges, bis man ihn davon überzeugt hatte, nicht mehr die Hütchen aufzustellen sondern den Vereinsvorsitz beim oberhessischen Traditionsclub zu übernehmen. Natürlich zählte er auch im Musik- und Trachtenverein zu den unverzichtbaren Stützen. Im Kirchenchor trällerte und schmetterte er mit und warf sich mit seinem mächtigen Gesangsorgan ins hohe C wie kein anderer.
Auch der Heimat- und Kulturpflegeverein sowie der Kleintierzuchtverein hatten eine Delegation entsandt. Der kleine Hase, Herbert Castor-Rex vom Eselsberg, den der Jubilar als Geschenk überreicht bekam, zog später in Chiaras Kinderzimmer sämtliche Register und legte seinen adligen Charme überraschend schnell ab. Noch heute ist nicht ganz geklärt wie er über die Brüstung unseres Balkons klettern und anschließend verschwinden konnte. Chiara zeigte sich emotional nicht so stark betroffen, wie man das vielleicht hätte erwarten können. Ihre Trauerphase war jedenfalls auffällig kurz.
Die längste Laudatio an dem Jubeltag hielt ein Vertreter der Freien Wählergemeinschaft. Unser sprach- und wirkmächtiger Promi-Opa war lange Zeit als Fraktionsvorsitzender das Zugpferd der FWG im Gemeindeparlament gewesen und hatte sich mit hochgekrempelten Ärmeln in nahezu jede Debatte gestürzt. Als lokale Politgröße hatte er während dieser Zeit mit seiner erlebbaren Bürgernähe angeblich nicht nur einige bahnbrechende Akzente gesetzt sondern mit seinen bewundernswerten Eigenarten: Leidenschaft, Verantwortung und Augenmaß auch immer wieder und unermüdlich Mehrheiten organisiert.
"Herbert! Du hast dich um das Blühen deiner Heimatgemeinde verdient gemacht!"
Leider ging der Redner nicht näher auf Details ein.
Mindestens genauso viel Hingabe wie für seine Vereine und die Arbeit als Volkstribun im Gemeindeparlament zeigte der verdiente Alleskönner für seinen Beruf. Er war Lehrer, oder wie er immer sagte: Schulmeister. Die letzten fast 25 Jahre davon Schulleiter der Grund- und Hauptschule in … richtig geraten: Stockfeld.
In der Welt des Vogelsberger Eigengewächs gibt es auch heute noch nur zwei Arten von Menschen. Schwätzer und Macher! Und jeder weiß, zu welchem Stamm er gehört. Kein verklemmter Stubenhocker oder orientierungsloser Mitläufer. Auch die Reservebank ist sein Platz nicht. Er greift lieber aktiv ins Geschehen ein und mischt mitten auf dem Spielfeld mit. Wenn nötig im Alleingang, und immer weit vorn.
Der VB-Dynamo, in und um Stockfeld auch unter seinem Decknamen, Hans Dampf, bekannt, war und ist auch heute noch eine Institution in der hessischen Einöde. Es gibt niemanden im Dorf, der nicht irgendeine Geschichte über den Allrounder erzählen kann.
Sobald ich bei meinen früheren Besuchen als vom "Zimmermänne senne Kleene de Klei” identifiziert worden war, musste ich mir von meinem Gegenüber, ob ich wollte oder nicht, Opa-glaubst-du-nicht-Geschichten anhören. Nicht immer Heldengeschichten.
Da es meist die gleichen Schwänke waren, vergaß ich auch schon einmal, dabei ein freundliches und interessiertes Gesicht zu machen.
Dennoch war ich mir bereits früh meiner besonderen Verantwortung als Mitglied der dörflichen Royal Family bewusst und es gab auch durchaus gute Momente. Geholfen hat sicherlich auch, dass ich mit den meisten Ureinwohnern über drei bis fünf Ecken verwandt bin.
Stockfeld ohne Herbert Zimmermann ist wie England ohne die Queen, die deutsche Politik ohne Wolfgang Schäuble und die Bundesliga ohne Konferenzschaltung.
Um mit Voltaire zu sprechen: Wenn es Opa nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.
Daran, dass es wirklich niemanden gibt, der in Stockfeld und Umgebung nicht die Familie Zimmermann kennt, hat auch Oma Gisela ihren Anteil. Die gebürtige Stockfelderin hat in über 30 Jahre als Hebamme den halben Vogelsberg abgenabelt und sich fast genauso lang als gewähltes Mitglied in die Arbeit des örtlichen Kirchenvorstandes eingebracht.
Doch zurück zu Alessandro und Luigi, zwei von Opas besten amici und was das Feiern anbelangte in ihren besten Zeiten eine Kreuzung aus ihrem italienischen Landsmann Silvio Berlusconi und Prinz Harry.
Zusammen mit noch zwei weiteren Landsmännern hatten sie Anfang der sechziger Jahre zu den ersten Gastarbeitern gezählt, die ganz in der Nähe von Stockfeld für ein größeres Bauunternehmen arbeiteten.
Opa hatte die beiden entdeckt als sie nach Feierabend auf dem Bolzplatz kickten.
Ohne ein Wort Italienisch zu können, hatte er es mit seiner unkonventionellen Herangehensweise und seiner beispiellosen kommunikativen Begabung geschafft, die beiden zu überreden, beim TSV mitzutrainieren und später auch in der A-Klasse um Punkte zu kämpfen. Schon damals war es erstaunlich, was so ein paar Fläschchen oberhessischer Getränkespezialitäten für die Völkerverständigung leisten können.
Читать дальше