Ihre Mutter hatte bei dem ersten Besuch des Italieners in Stockfeld eine ähnliche Taktik eingeschlagen, allerdings ohne den gewünschten Erfolg. Mit der Feststellung "Wir sind hier nicht in Italien”, hatte ihre empörte Tochter, so erzählt es Oma, den Diskussionsprozess deutlich abgekürzt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass sie sich auch auf diesem Gebiet keinerlei Illusionen mehr hingeben musste.
Auch meiner Schwester und mir war schon früh aufgefallen, dass in Pisa die Uhren etwas anders tickten als in Stockfeld.
Nonno Dino hatte eine kleine Schreinerwerkstatt und war eigentlich den ganzen Tag nicht zu sehen. In der Wohnung, die direkt neben der Werkstatt lag, duftete es von früh bis spät nach Holzleim und Sägespänen.
Chiara und ich verbrachten unsere Ferien oft entweder im Vorderen Vogelsberg oder in Pisa. Nicht selten waren wir in den Ferien auch an beiden Orten. Ein Leben zwischen Kartoffelsalat und Spaghetti. Egal wo wir uns aufhielten, wir konnten uns darauf verlassen, dass Großeltern, Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen wieder ein riesen Programm für uns auf die Beine gestellt hatten und immer etwas los war.
Später als wir selber entscheiden konnten, zog es Chiara dann mehr in das Land, "wo die Zitronen blühn" (genau, der Frankfurter Bub Johann Wolfgang von G. wusste das schon) während ich eher zum hessischen Jodwede tendierte.
Trotz aller Unterschiede in den beiden Familien, eines ist gleich. Sowohl bei Oma Gisela als auch bei nonna Emilia laufen alle Fäden zusammen. Mit ihrer genügsamen Philosophie von Bescheidenheit, Großzügigkeit und gesundem Menschenverstand geben die beiden Galionsfiguren heute noch den Rhythmus vor und drücken den Sippen ihren großmütterlichen Stempel auf.
Meine Präferenz für Stockfeld hatte weniger mit meiner Konfession zu tun. Eher schon etwas mit meinem Cousin. Roland war ähnlich fußballverrückt wie ich und zusammen mit seinen Freunden, die nach und nach auch meine wurden, waren wir während meiner Ferienaufenthalte von morgens bis abends auf Achse und eiferten unseren großen Vorbildern nach.
Auch später, als das Kicken nicht mehr ganz so wichtig war, wurde es uns beim Ausleben unserer pubertären Fantasien nie wirklich langweilig. Unvergessen bleiben die ersten Foxtrottschritte und die guten Nacktgeschichten im Freibad, zu denen wir uns immer die Nachwuchs-Nixen vom Campingplatz einluden. Auch der Besuch zahlreicher Discoabende bei Feuerwehr-, Sport- oder Heimatfesten, auf denen es heckehoch herging, lehrte mich so manches, das ich nicht missen möchte.
Stockfeld, das globale Megadorf im Herzen Europas, das hieß damals und heißt zum Teil heute noch: Opas gut gemeinte und pädagogisch besonders wertvolle Einführungen in das geheimnisvolle Eigenleben seines uralten Rechenschiebers; die hanebüchenden und markdurchdringenden Räuberpistolen und Ammenmärchen des Universalgelehrten von einer Epoche, in der noch Briefe geschrieben wurden, in jedem Kinderzimmer Sparschweine gefüttert wurden, Telefone eine Schnur hatten und es im Fernsehen nur drei Programme gab; Videoabende mit Indiana Jones auf der Suche nach dem heiligen Gral oder Weltraumschlachten in Star Wars Krieg der Sterne; Zwiebelkuchen und der Kampf mit Hefeteig und Tränen; Ahle Wurscht; All-you-can-eat Kartoffelsalat – Bratkartoffeln – Pellkartoffeln – Salzkartoffeln – Kartoffelklöse – Kartoffelpuffer – Kartoffelsuppe; Omas ethisch korrekte Frikadellen im Biobrötchen und ihre verzweifelten HEERBÄÄÄRT!-Rufe; schweißtreibender Dreireihentanz; Opas endlose Reden zur Lage der Nation; Heizen wie die gesenkte Sau und mit vollem Karacho über die Feldwege mit Opas "Rot-Renner" Lanz Bulldog, Baujahr 1939 und unglaublichen 45 Pferdestärken unter der Blechhaube; mein erster Geschwindigkeitsrausch mit Omas E-Bike; Fassonschnitt für fünf Euro beim Dorf-Figaro; Wanderzwang, Pilze sammeln und Vogelexkursionen ins Feldlerchengebiet mit Anorak, Thermoskanne, Kolder und Yorkshire-Fiffi Schröder, einer Kreuzung aus Haustier und Tamagotchi; Trimm-dich-Pfad-Joggen und epische Schneeballschlachten im Jahrhundertschnee; erste tollkühne Fahrversuche im mit schwarz-rot-goldenen Außenspiegelpräservativen ausgestattendem Opa-Mobil; Rumgeballere mit dem Luftgewehr; Omas schwingender Zeigefinger, Maibowlerausch im Juli; Bierchen zischen im holzvertäfelten Hobbykeller …
Mama ahnte, dass bei dieser Form des generationenübergreifenden Know-how-Transfers wohl öfters nicht alles ganz koscher war. Aber Opa, mit seinem gesunden Seniorenverstand und seinen "Da muss man eben durch" und "Du musst nur wollen" Sprüchen schon immer am Puls der Zeit, gelang es jedes Mal sie wieder zu beruhigen. Am Telefon überhörte ich den Spiritus Rector des Zimmermann-Rudels öfters wie er von "oberhessischer Leitkultur" und "ganz anständigen Kerlen” sprach und er schließlich auch ein Auge auf mich habe.
"Alles in Erdnussbutter!"
Das war natürlich eine glatte Lüge. Wahrscheinlich waren es gerade seine Beschwichtigungen, die ihr am meisten Sorgen machten.
Die praktizierte Lebensweisheit des stolzen Oberhessen "Menschen ohne Dialekt sind arme Menschen" machte auch vor seinem Enkel nicht halt. Englisch, Französisch, Italienisch, später dann noch Portugiesisch und Spanisch, im beschaulichen Provinznest im hessischen Nirgendwo beeindruckte das kein Schwein. Dazu gehörte man erst, wenn man die Sprache der Eingeborenen sprach. Und so ist das heute noch.
Opa Herbert ist, und da kann ich mich der Diagnose meines Freundes Klaus nur anschließen, eine Granate. Und was für eine. So sieht der Koloss das auch selbst: "Ein Kind des Vulkans, gemeißelt aus Basalt”.
Er redet viel, wenn der Tag lang ist und in Stockfeld sind die Tage sehr lang.
Vor ein paar Jahren hatte ich mich mit dem harten Kern des FC Glasvoll Rangers und einem gemieteten Minibus zur Frankfurter Commerzbank Arena aufgemacht. Der Anlass war kein geringerer als il classico Germania – Italia . Natürlich hatte ich auch eine Karte für den Herbertinator, schließlich war es ja ein Heimspiel für ihn. Kurz vorher musste er jedoch noch absagen.
"Kurzschluss im Magen”.
Wahrscheinlich kämpfte das Vogelsberger Naturphänomen mit Cola und Salzbrezeln wieder einmal gegen seinen Durchfall.
Aber ich hatte ihm versprechen müssen mit der Truppe vor unserer Rückreise nach Berlin noch einmal in der mitteleuropäischen Erlebnisregion vorbeizuschauen.
"Kein Ding, oder?"
Kein Ding.
Bei den Jungs hielt sich die Begeisterung über den Abstecher in den idyllischen hessischen Sehnsuchtsort in sehr engen Grenzen. Statt Sachsenhausen und Kaiserstraße stand nun ricevimento dalla famiglia Zimmermann/Stockfeld auf dem Programmzettel.
"Hessisch Sibirien! Na herzlichen Glückwunsch auch Francesco!”
So richtig zu widersprechen traute sich dennoch niemand, da ich den Trip organisiert hatte und der Motor bei den Planungen gewesen war.
Trotz aller Terminengpässe reichte es am Tag nach dem Spiel doch noch zu einer kleinen Spritztour in die Frankfurter Altstadt. Meine ständigen Warnungen, dass die Stockfelder Trinkkultur auch noch einiges zu bieten hat und dort noch niemand verdurstet sei, stießen auf taube Ohren. Als wir uns am späten Nachmittag Richtung Norden aufmachten, war die Stimmung eigentlich schon am Siedepunkt und kaum noch zu toppen. Der Apfelwein hatte ganze Arbeit geleistet.
Mir war von Anfang an klar, dass der passionierte HR4-Hörer mit dem X-Faktor sich nicht lumpen lassen würde und mich und meine Kumpels nicht nur mit seinem selbst gemachten Apfelsaft beglücken würde.
Da ich den Minibus steuerte, eine Bedingung für den Boxenstopp in der ländlichen Enklave, kann ich mich auch heute noch sehr gut an die Stunden nach unserer Ankunft erinnern. Bereits während der Fahrt rief mich der Alleswisser, der seinen Spitznamen "Google" mit stolz trägt, ständig auf meinem Handy an und wollte genau über unseren aktuellen Standort informiert werden. Da ahnte ich noch nichts.
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