Wie bitte? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein.
Korvin stoppte. Dieses kleine Miststück hatte ihn doch tatsächlich in ihrer Hand. Er hasste es, dass sie ihn so einfach erpressen konnte. Wenn er hier blieb, würde ihm daheim eine Ohrfeige sicher sein, das war gewiss. Ging er weiter, könnte er große Probleme kriegen, weil sie ihn einer Untat bezichtigte, die er gar nicht begangen hatte. Es war nicht gut, wenn ihn jemand von den Wachen der Burg hier direkt bei Mathilda antraf. Es schickte sich nicht, dass ein Junge von niederem Stand mit einem Mädchen von höherem Stand allein war. Und das wusste das kleine Gör ebenfalls. Aber wenn sie schrie, hätte er keine Chance. Auch wenn sie ihn zuerst über den Haufen gerannt hatte, bevor er sie verfolgt und gestellt hatte, würde er als Gemeiner dafür sicherlich büßen müssen. Sie nicht.
Dazu hatte er keine Lust. Er brummte unwillig und warf ihr einen giftigen Blick zu. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft.
Was soll's, dachte Korvin. Zu spät war er sowieso schon. Ob er nun 10 Minuten oder eine Stunde zu spät kam machte den Braten auch nicht mehr fett.
"Was willst du überhaupt von mir? Und viel wichtiger, wie krieg ich dich je wieder los?"
"Oh, das ist ganz einfach. Zeig mir deinen Lieblingsplatz hier im Wald und danach bringst du mich einfach zu meiner Picknickstelle bei den Apfelbäumen zurück, von wo ich fortgelaufen bin", antwortete Mathilda mit unschuldigem Augenaufschlag und einem siegesgewissen Grinsen. Ihr Gegenüber seufzte, duckte sich aber noch mehr hinter die Büsche, als er in einiger Entfernung eine Bewegung im Wald sah. Jemand rief wiederholt nach dem Mädchen.
"Also gut", flüsterte er. "Wenn ich dich nur dadurch loswerden kann... dann komm mit. Erst mal bring ich uns von hier weg, bevor uns eine der Wachen schnappt", flüsterte er. Für Mathilda wäre das nicht schlimm, für ihn jedoch umso mehr.
Mathilda lächelte verschmitzt, wie wenn sie etwas wusste, von dem er nichts wusste. Aber sie schwieg und Korvin verdrängte diesen seltsamen belustigten Blick ihrerseits, mit dem sie ihn gerade bedachte.
"Super, dann mal los", gluckste sie fröhlich und klatschte voller Erwartungen die Hände.
"Schscht", machte Korvin und unterstrich sein Zischen mit einer Geste seiner Hand, damit sie leise war.
Mit einem Kopfnicken bedeutete er ihr, ihm zu folgen. Und sein Blick sagte ihr, dass sie dabei überaus leise sein sollte. Mathilda zog ihr Kleid bis über die Knie, damit es nicht über das Laub des Waldes schliff und durch ein Rascheln ihren Standort verriet. Es schien ihr ziemlich egal zu sein, ob das standesgemäß war oder nicht.
Korvin schlug einen großen Bogen um die suchende Person, die er erspäht hatte. Es war eine Frau, wie der vorige Ruf ihm schon verraten hatte. Aber das hieß nicht, dass die Dame allein hier unterwegs war. Irgendwo waren sicherlich auch Burgwachen am Suchen. Besorgt sah er sich um, entdeckte aber sonst niemanden. Korvin schlug einen Weg ein, der erst einmal weg von der Dame führte. Die Beiden huschten dabei von einem dicken Baumstamm zum nächsten.
Jede noch so kleine Deckung ausnutzend, entfernten sie sich immer mehr von ihrem vorigen Platz, wo der Sattlerjunge das kleine Burgfräulein gestellt hatte.
Korvin führte Mathilda quer durch das Unterholz des Waldes. Er wählte nicht gerade den einfachsten und leichtesten Weg, weil er Mathilda ärgern wollte. Doch das kleine Mädchen war taff. Weder murrte sie, noch jammerte sie diesbezüglich. Im Gegenteil, es schien ihr sogar zu gefallen, dachte er grimmig. Ab und an blieb sie mit ihrem Umgang oder dem Saum ihres Kleides in den Büschen hängen, die sie durchquerten. Dann befreite sie sich wortlos daraus und ging weiter hinter Korvin her. Ihre Kleidung jedoch litt beträchtlich. Während sie so gingen, stiegen, sich durch Gesträuch hindurch drückten, verflog Korvins Ungemach auf Mathilda immer mehr. Neugier machte sich stattdessen in ihm breit. Denn Mathilda war nicht wie die anderen Mädchen, die er so aus dem Dorf kannte. Die Mädchen dort waren... eben Mädchen. Der Junge konnte nicht genau sagen, was Mathilda von ihnen unterschied. Am Stand lag es sicherlich nicht. Es war vielmehr ihre lockere Art und Weise, die er mehr und mehr als angenehm empfand. Sie hatte keine Angst, jedenfalls nicht vor ihm oder dem Wald. Und auch ihre Spitzfindigkeit war irgendwie faszinierend.
Als sich der Junge sicher war, dass sie weit genug von den Suchenden entfernt und allein waren, führte er Mathilda zu einem riesigen Findlingsstein, der im Wald neben einem kleinen Bachlauf aufragte. Der Bachlauf hier unten war an dieser Stelle gemächlich, doch noch weiter oben stieg er steil an und floss aus dem Fels heraus über viele kleinere Kalkfelsen hinunter.
"So, jetzt haben wir eine Weile Ruhe, würde ich denken", sagte der Junge zufrieden. "Hier sind wir abseits von den Wegen. Die Sträucher sind dicht und durch das Wasser sehr zahlreich und der Bachlauf übertönt mit seinem Geplätscher unser Gerede."
"Klasse. Ich danke dir", antwortete Mathilda aufrichtig. Dann, nach einer Weile fügte Sie hinzu:
"Ist das dein Lieblingsplatz?"
"Jap." Korvin nickte. "Gefällt er dir?"
Mathilda sah sich um. Es war traumhaft, fand sie. Sie drehte sich dabei im Kreis, um die ganze Pracht dieses Ortes wahrzunehmen. Alles war so schön! Die kleinen weißen Blumen, die den Bachlauf ein Stück weiter unten säumten, der große Stein vor ihr, der an seinem Fuß mit Moos und kleinen Farnen überwachsen war. Das klare Wasser, das fröhlich vor sich hin gluckerte.
"Es ist... einfach... wunderbar hier", freute sie sich und lachte dabei. Mathilda suchte sich eine Sitzgelegenheit. Ein weiterer Stein, der eine Elle entfernt vom Bachufer lag, war ihr dann recht. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und ließ die nackten Füße ins Wasser gleiten. Während sie mit den Zehen im kühlen Nass planschte, versuchte sie, Korvin ihre Situation näher zu erklären.
"Weißt du, ich schaff‘s leider nicht allzu oft mich aus der Burg rauszuschleichen. Manchmal hab ich das Gefühl, etwas erdrückt mich. Es ist ganz schön anstrengend, die Tochter des Grafen zu sein, das kann ich dir sagen. Ich wünschte, ich könnte mit dir tauschen", sinnierte sie vor sich hin und ruderte mit den Füßen im Wasser hin und her.
"Glaub mir, das willst du nicht." Seine Antwort fiel etwas schroffer aus als ursprünglich geplant.
"Warum? Du bist frei zu tun, wozu du Lust hast. Ich will das auch können."
"Ganz so einfach ist es nicht, Mathilda. Ich bin ein Leibeigener. Weißt du, was das heißt? Ich erklär's dir: ich und meine ganze Familie gehören deinem Vater. Ich darf diese Region nicht ohne Erlaubnis verlassen. Tue ich es trotzdem, werde ich schwer bestraft. Meine Eltern müssen viel und schwer arbeiten, damit wir Geld haben, um uns Lebensmittel oder Stoff kaufen zu können.
Du dagegen... dir steht alles offen. Du hast Geld, schicke Kleidung und keine Sorge, wo du das nächste Abendessen herbekommst. Und du kannst reisen. An jeden großen Ort, egal, wohin du möchtest. An den Kaiserhof, wenn du das willst, zum Beispiel!" klärte er sie auf.
"Aber du bist doch frei. Hier! Du kannst machen, was du willst, hierher an deinen Lieblingsort gehen zum Beispiel, wann immer du willst! Ich dagegen... ich bin unfrei, irgendwie. Tu dies nicht, tu das nicht, das schickt sich nicht für ein Mädchen... verstehst du? Mach dich nicht schmutzig, drück dich gewählt aus...ich hab das so satt. Ich dürfte vermutlich nicht mal mit dir reden, geschweige denn allein hier mit dir sitzen ohne dass jemand dabei ist. Das ist doch alles Quatsch...“, fauchte sie verdrossen. Sie zog einen Fuß aus dem Wasser. Die Haut war gerötet, denn das Wasser war sehr kalt. Sie stützte das Kinn auf ihr Knie, bevor sie das Gespräch weiterführte.
Die beiden erwogen noch eine ganze Weile, wer von ihnen besser davonkam, doch auf einen gemeinsamen Konsens kamen sie dabei nicht.
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