Als ich wieder zu mir kam, war es bereits dunkel. Mir taten alle Knochen weh, insbesondere der Kopf und der Knöchel des rechten Fußes. Rasende Kopfschmerzen hatten sich meiner bemächtigt, so dass ich kaum klar denken konnte. Mir war zusätzlich schlecht, was sich darin äußerte, dass ich einen Würgereiz gerade noch so unterdrücken konnte. Langsam tastete ich meinen Kopf ab. Als ich an die Stelle kam, wo ich Bekanntschaft mit dem Baum gemacht hatte, zuckte ich schmerzerfüllt zusammen. Eine dicke Beule war zu spüren. Und etwas Klebriges war in meinem Haar. Ich zog die Finger zurück. Ich wusste, auch ohne dass ich es sah, dass es sich um Blut handelte. Es roch danach.
Super... mir blieb auch nichts erspart...
Mir wurde erneut schlecht, und diesmal drehte ich mich weg und würgte. Dabei zog ein stechender Schmerz durch meinen rechten Knöchel und ich stöhnte gepeinigt auf. So eine Scheiße aber auch!
Ich war allein, weit und breit niemand, der mir helfen könnte.
Grandios.
Tränen stiegen mir in die Augen und ich fing an zu heulen, was mich zwar auch nicht weiter brachte, aber mir wenigstens ein wenig Erleichterung verschaffte.
Das Weinen wurde durch eine lodernde Wutwelle abgelöst. Wut auf mich selbst, Wut auf meine Tollpatschigkeit, Wut auf meine tolle Art und Weise, falsche Entscheidungen zu treffen. Wut auf den hässlichen kleinen Kobold in meinem Kopf, der mit einer Hacke herumlief und mich unablässig peinigte.
Nachdem ich also eine Weile wütend mit allem um mich herum gewesen war, kam die Selbstmitleidsphase.
Ich lachte bitter auf und zuckte sofort zusammen, als der kleine Kobold in meinem Kopf noch stärker zu hämmern anfing. Nebel zog langsam auf, normal für einen Novemberabend im Täle. Ich fing an zu frösteln. Die Joggingjacke und zugehörige Hose waren nicht gerade das wärmste, was man sich für eine Nacht im Freien aussuchen würde.
Entmutigt schnappte ich mir einen Stein und holte zum Wurf aus.
"Ich schwöre bei diesem verdammten Stein in meiner Hand, dass...“, begann ich und wollte den weißen Kalkstein gerade wütend von mir wegschleudern, als plötzlich eine Gestalt auf mich zukam, die Hand abwehrend von sich gestreckt hielt und mich in leisem, aber eindringlichem Ton ansprach.
"Ich würde an eurer Stelle auf nichts schwören, was ihr nachher bitter bereuen könntet", mahnte mich eine sanfte Frauenstimme.
Ich blinzelte.
Vor ein paar Sekunden war doch noch niemand hier gewesen, oder? Halluzinierte ich schon?
Ich ließ mein Wurfgeschoss mitsamt der Hand zurück auf den Boden sinken. Mehr als ein "Ähh", brachte ich nicht heraus und sah die junge Frau verwirrt an. Es handelte sich um eine Person im Alter von vielleicht 19 Jahren. Sie hatte unverschämt langes braunes Haar, das zum Teil kunstvoll in Zöpfen um ihren Kopf herumgeschlungen war. Unter einem Umhang trug sie ein wundervoll mitternachtsblaues, eng anliegendes Kleid aus einem schön anzusehenden, weich fließenden Stoff, welches am Rücken fest geschnürt wurde und so gar nicht der heutigen Mode entsprach.
Eine gold-silberne Borte umlief den Saum des Kleides und auch den des Umhangs darüber. Der Umhang selbst war so weit, dass er das Kleid fast vollständig verdeckte und ihn mit einer eleganten silbernen Brosche am Hals verschloss. Unauffällig kniff ich mich, ob ich vielleicht träumte. Das Mädchen blieb und kam näher. Sie blickte mich lange an, dann nahm sie ohne ein weiteres Wort zu sagen den Stein aus meiner Hand und legte ihn sanft neben mich ins Laub zurück.
"Lasst Vorsicht walten, es könnte euch sonst schlecht ergehen", meinte sie.
"Ich weiß nicht, was Sie meinen. Aber gut, dass Sie da sind. Ich brauche Hilfe, ich bin verletzt", jammerte ich plötzlich los. Sie nickte und beugte sich zu mir herab. Mit schnellen Fingern überprüfte sie meine Verletzungen. Als sie meinen Kopf berührte, musste ich unwillkürlich aufstöhnen und zuckte automatisch zurück.
"Ihr seid schwer verletzt. Aber keine Angst. Mein Geliebter wird Hilfe holen, sofern es ihm irgend möglich ist. Ich werde solange hier bei euch wachen, damit euch kein weiteres Leid geschieht", meinte sie mit unglaublich ruhiger Stimme und setzte sich neben mich ins Laub. Ich dachte nicht weiter darüber nach und nickte.
Böser Fehler.
Die Kopfschmerzen stachen wie ein Speer in mein Hirn und erschwerten mir das Denken und auch die korrekte Wahrnehmung meiner Umgebung. Die Unbekannte legte ihre Hand beruhigend auf meine Schulter und bedeutete mir, mich nicht anzustrengen. Der Schmerz ließ langsam wieder etwas nach.
"Bewegt euch nicht. Es wird alles gut werden. Das verspreche ich euch. Ihr müsst nur wach bleiben. Damit ihr nicht einschlaft, werde ich euch mit einer Geschichte unterhalten. Ihr müsst aufmerksam zuhören, versprecht ihr mir das?"
Ich nickte ganz sachte, wegen der Kopfschmerzen. Und bereute es sofort. Die junge Frau setzte sich neben mir zurecht und schob den Stein, den ich vorhin in der Hand gehalten hatte, noch ein kleines Stück weiter von uns beiden weg.
"Sie handelt von großer Liebe und bitterem Hass, von Recht und Unrecht, ewiger Treue und schrecklichem Verrat. Sie ist aus den Tagen, als die Burg über euch in ihrem vollen Glanze erstrahlte", sagte sie sanft. Dabei war ihre Stimme mit einem leicht bitteren Unterton versehen, der kaum herauszuhören war.
"Von der Hiltenburg? Ich würde sie sehr gerne hören", antwortete ich leise und neugierig.
"Nicht einschlafen", mahnte sie mich noch einmal. "Lauscht aufmerksam meinen Worten...“
Und dann begann sie, aus den alten Tagen dieser Gegend zu erzählen. Die Müdigkeit war mit einem Mal verflogen und ich hörte die ganze Nacht zu, was diese Fremde mir zu erzählen hatte...
Teil 1
Kapitel 1
Tizimbach am Dorfrand ,anno 1414
"Korvin! Kooorviiin! Verflixt, wo steckt denn der Junge nur schon wieder?", rief Alfrida, seine Mutter, ärgerlich. Dazu hatte sie ihre Hände zu einem Trichter geformt und damit in Richtung Waldrand gerufen.
Keine Antwort.
Der Junge war nun acht Jahre alt. Alt genug, um in der kleinen Sattlerei und Schneiderei der Familie seinen Teil beizutragen. Aber der Lümmel hatte nichts anderes im Kopf als Unfug zu treiben anstatt ordentlich zu arbeiten. Er trieb sich lieber in den Wäldern um die Hiltenburg herum oder spielte mit den Jungen aus dem Dorf Ball. Die Frau seufzte leise.
Vielleicht würde sie ihn ja dort finden.
Alfrida raffte resigniert ihre Röcke und drehte sich um, um an anderer Stelle nach dem Knaben zu suchen. Das würde sicherlich wieder Ärger mit seinem Vater geben, wenn sie ihn nicht innerhalb der nächsten halben Stunde fand.
Wo steckte der Bursche nur wieder?
Korvin indessen, der seine Mutter durchaus gehört hatte, aber keinerlei Anstalten machte, auf den Ruf zu reagieren, kicherte leise und streunte tiefer in den Wald hinein, damit er nicht vorzeitig gefunden wurde.
Noch hatte er Zeit. Noch war es nicht so weit, seine Zeit als Handlanger bei seinem Vater totzuschlagen. Es gab hier viel Interessanteres zu entdecken. Jedenfalls, wenn es nach ihm ging.
Sicherlich, er würde bald heimgehen müssen, bevor sein Fortbleiben richtigen Ärger verhieß. Korvin hatte es nämlich sehr gut heraus, die Grenze zwischen nur verbalem Ärger und körperlich spürbarem Schmerz gut abschätzen zu können. Er hatte noch ungefähr 20 Minuten. Und die würde er bis zuletzt für sich nutzen.
Leise vor sich hin pfeifend wanderte er etwas tiefer in den Wald hinein. Korvin kannte sich hier aus wie in seiner Westentasche. Nicht weit von hier gab es einen kleinen Bachlauf, den er nun ansteuerte. Ein kleiner Wildpfad schlängelte sich durch das Unterholz, welchem der Junge folgte, bis er an einer großen Fichte vorbei kam. Dann bog er links ab, quer durch das Gehölz und stiefelte bergan. Während seiner Tour warf er einen kleinen, mit Korn gefüllten Ball aus Stoff von der einen in die andere Hand und wieder zurück. Korvin hatte eine Vorliebe für Bälle. Sie waren einer der wenigen Gründe, warum er versuchte, nicht allzu spät zu seiner Arbeit zu gelangen. Wenn er mithalf, durfte er Stoff oder Lederreste, die übrig waren, am Ende des Tages einsammeln und für sich und seine Ideen verwenden. Dieser Ball war sein stolzer Besitz, der Erste, den er selbst geschneidert hatte und mit dem er auch hervorragend umzugehen wusste. Dementsprechend bunt zusammengewürfelt war sein Spielzeug auch, da es aus lauter Flicken bestand. Er konnte ihn nicht nur von einer Hand in die andere werfen, nein, oftmals setzte er dazu auch andere Körperteile wie Knie, Knöchel, Ellbogen oder auch den Kopf ein, um den Ball in Bewegung zu halten. Wenn man Korvin dabei zusah, sah es manchmal so aus, als ob der Ball wie eine lebendige Maus über ihn hinwegsauste.
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