Korvin konnte nun das Plätschern des Bächleins hören. Er warf gerade seinen bunten Ball wieder in die Höhe, als es im Gebüsch neben ihm knackte und krachte. Erschrocken riss er die Augen auf, doch ausweichen konnte er nicht mehr, als etwas, oder, wie er im Nachhinein feststellen musste, als jemand durch den Schlehdorn hindurchbrach und ihn schlichtweg umrannte. Er wurde unsanft von den Füßen geholt.
Korvin fiel auf seinen Hosenboden und sein Ball flog unaufgefangen an ihm vorbei. Er traf ein kleines Mädchen von vielleicht 5 Jahren, das in vollem Tempo versucht hatte, durch Korvin hindurch zu rennen. Heilloses Durcheinander war entstanden.
Zappelnd lag sie über seinen Beinen auf dem Rücken, das Haar wirr durcheinander, der Umhang halb um ihre Beine verschlungen. Sie kämpfte sich strampelnd und kratzend frei und rutschte von ihm halb herunter. Fluchend drückte er sie weiter von sich und zog einen Fuß nach dem anderen unter dem strampelnden Bündel über ihm hervor. Das Mädchen, das sich in der Zwischenzeit von ihrem Umhang befreit hatte, machte Anstalten, gleich weiter zu rennen, ohne ein Wort der Erklärung. Doch bevor sie verschwinden konnte, hielt er sie blitzschnell am Ärmel fest. Der Stoff straffte sich und das Kind stoppte abrupt.
"Halt, hiergeblieben du kleine Kröte, das hat gerade verdammt wehgetan!", fauchte er sie an, doch sie riss sich mit einem Ruck von ihm los und wollte sich gerade umdrehen, als er sie nochmals anrief und sie ein weiteres Mal einfing.
"He, hiergeblieben hab ich gesagt!"
Doch dafür kassierte er einen Tritt gegen sein Schienbein. Schmerz durchzuckte ihn. Seine Hände fuhren reflexartig an die Stelle, die das Mädchen soeben getroffen hatte. Das Kind entwand sich wie von selbst seinem Griff, als er das tat.
"Au verdammt, na warte, du kleines Gör, das zahl ich dir heim...!", schrie er, doch das Mädchen rannte bereits von ihm weg. Und Korvin rannte wie der Blitz hinterher, nachdem er seinen Ball gesucht und vom Boden aufgehoben hatte. Seinen Schatz konnte er nicht hier liegen lassen, auch wenn das hieß, dass die kleine Kröte einen kleinen Vorsprung bekam. Vermutlich hätte er ihn später nicht mehr gefunden. Naja, er war schließlich älter und schneller, dachte er grimmig und nahm mit der kurzen zeitlichen Verzögerung die Verfolgung auf.
Sie war schnell, das musste er ihr lassen. Aber er war schneller, stellte er zufrieden fest. Nach weiteren 3 Minuten Hetzjagd durch den Wald schrie er ihr hinterher:
"He du kleine Kröte, was machst du hier überhaupt so allein im Wald? Wissen denn das deine Eltern?", rief er, um sie zu provozieren. Vielleicht lenkte es sie ja vom Rennen ab und er konnte dadurch ein Stück aufholen. Und tatsächlich, es klappte. Jedoch nicht so, wie er ursprünglich gedacht hatte. Das Kind vor ihm rammte die Fersen in den Waldboden und drehte sich angriffslustig zu ihm um.
"Was weißt du denn schon von meinen Eltern? Ich bin immerhin schon 5! Und ich kann sehr gut alleine auf mich aufpassen. Du ja offensichtlich auch. Wissen das denn DEINE Eltern, dass du hier bist?", sagte sie frech zurück und stellte sich kerzengerade hin, damit sie noch ein wenig größer wirkte. Korvin bremste mit Mühe seinen Schwung ab und blieb vor ihr stehen. Sein Herz raste und schnaufend zog er Luft in seine Lungen. Seine Überraschung darüber, dass sie so plötzlich angehalten hatte, überspielte er mit Worten:
"Tatsächlich?", sagte er belustigt, und stellte sogleich klar, mit wem sie es zu tun hatte. "Ich bin immerhin drei Jahre älter als du und kenne mich hier bestens aus, was man von dir wohl nicht behaupten kann."
Die Kleine verschränkte die Arme vor der Brust.
"Angeber", postulierte sie schlicht.
Das Grinsen fiel ihm regelrecht aus dem Gesicht und Ärger machte sich in ihm breit. Korvin verschlug es fast die Sprache. So klein, und schon so aufmüpfig und frech. Er ballte die Hände zu Fäusten. Als er sich halbwegs wieder gefasst hatte, erwiderte er:
"Selber Angeber. Wer hat denn damit angefangen? Das warst ja wohl du!"
Anstatt einer verbalen Antwort streckte sie ihm kurzerhand die Zunge heraus, eine Beleidigung, die er so nicht auf sich sitzen lassen wollte. Dieses Gör hatte es faustdick hinter den Ohren und bettelte förmlich um eine Abreibung. Korvin knirschte mit den Zähnen. Die konnte sie gerne haben. Korvin spürte, wie er darüber errötete, was ihn nur wütender machte. Eigentlich prügelte er sich nicht mit Mädchen. Gerade als er sich auf sie stürzen wollte, machte sie einen kleinen Schritt zurück und stoppte ihn mit dem Satz:
"Rühr mich an, und ich schreie, so laut ich kann!"
"Und? Dich wird hier keiner hören, wenn ich dich übers Knie lege und dir den Hintern weichklopfe!"
"Glaubst du, ich hab Angst vor dir?? Versuchs doch mal", forderte sie ihn keck heraus und reckte das Kinn vor.
Aber etwas an ihr ließ ihn zögern. Die Kleine sagte das mit so viel Selbstvertrauen und Überzeugung in der Stimme, dass er ihr glaubte. Er musterte sie genauer. Vorhin bei der Verfolgung war ihm das gar nicht aufgefallen, doch jetzt... Ihre Kleidung entsprach nicht gerade der Gewandung der einfachen Dörfler. Sie trug kein grobes Tuch wie andere Kinder, die er so kannte. Ihr Kleid war von feinerer Webart. Auch ihr Umhang bestand nicht aus ungefärbter Wolle, sondern beides hielt sich in einem dunklen Grünton. Wenn man genau hinsah, konnte man um ihren Kopf sogar einen geflochtenen Haarkranz unter den vielen zerzausten blonden Strähnen und dem Laub erkennen, das sich darin verfangen hatte. Sie war hübsch, keine Frage. Aber unglaublich frech.
Dennoch konnte er sich gerade keinen Reim darauf machen, wer da vor ihm stand und ihn herausforderte.
"Du spuckst ganz schön große Töne für einen Zwerg.“
Langsam ging er auf sie zu. Sie plusterte sich wieder auf.
"Pass auf, was du sagst. Ich bin kein Zwerg, ich bin Mathilda von Helfenstein, nur, damit du's weißt! Und jetzt geh mir aus dem Weg, du stehst mir in der Sonne", schleuderte sie ihm trotzig entgegen. Korvin blies lautstark die Luft aus seinen Backen. Er zuckte kurz, dann sackten seine angespannten Schultern nach unten bei der Erwähnung des Namens. Urplötzlich passte alles Gesehene und Gehörte zusammen. Na super.
Fast hätte er die Tochter seines Leibherren verprügelt, was ihm sicherlich nicht gut bekommen wäre. Und zu allem Überfluss hatte ihn dieses Geplänkel wertvolle Zeit gekostet. Waren die 20 Minuten schon vorbei, die er zur Verfügung gehabt hatte? Sicher. Was sollte er nun also machen?
"Na Danke. Weißt du was? Verschwinde einfach. Ich hab schon viel zu viel Zeit mit dir verplempert. Ich muss los", brummte er, wischte sich eine blonde Haarsträhne aus den Augen und machte Anstalten, sich herumzudrehen und Mathilda von Helfenstein einfach im Wald stehen zu lassen. Er fing wieder an, mit seinem Flickenball zu spielen.
Das Mädchen selbst stand unschlüssig hinter ihm. Irgendwie hatte sie eine andere Reaktion von ihm erwartet, als dass er sie einfach hier stehen ließ. Außerdem hatte sie seine Gedanken ja nicht mitbekommen.
"Hey, lass mich nicht allein!", rief sie plötzlich.
"Warum? Du findest dich doch hier allein zurecht, hab ich gedacht?"
"Das schon, aber... naja, Ich bin nicht sehr oft hier. Und bevor ich geschnappt werde, will ich wenigstens ein Abenteuer erleben", nuschelte sie nun verlegen.
"Ach, so ist das also. Aber weißt du was? Nicht mein Problem." Mit diesen Worten ließ er sie endgültig stehen.
Nach drei, vier getanen Schritten Korvins erklang eine Stimme im Wald. Sie war noch fern, kam aber eindeutig in ihre Richtung näher.
Er durfte mit Mathilda nicht erwischt werden, das war klar. Und Mathilda wusste das auch. Sie gedachte durchaus, dieses Wissen auszunutzen, wie er feststellen musste.
"Wenn du jetzt gehst, schreie ich."
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