Ich verstand: "An diesem Tag hattest du mich das erste Mal aufgesucht. Du dachtest, dass ich ihn finden würde, weil er nur von mir gefunden werden wollte. Doch was ist heute geschehen? Du bist verändert."
To'rir stieß sein grollendes Lachen aus: "Heute vernahmen wir seine Gegenwart wieder. Er verbrachte eineinhalb Jahre tief unter den Eisbergen im warmen Inneren von Soma. Ein Drachenschlaf ist todesähnlich. Das Herz schlägt nur einmal am Tag und so schwach, dass wir jüngeren Drachen ihn mit unseren noch unvollkommenen Kräften nicht wahrnehmen können. Heute ist er erwacht und seine Seele blutet nicht mehr."
Mir krampfte sich mein Herz vor Wut zusammen. Dran'gorr hatte sich die ganze Zeit verkrochen, ließ seine Seele im Schlaf heilen und ich musste mit meiner blutenden Wunde leben! Ich konnte nicht einfach über ein Jahr in Vergessenheit abtauchen und wenn ich wieder auftauchte, erschien alles besser!
To'rir funkelte mich tadelnd an: "Urteile nicht so hart! Denk daran, wieviel tausend Jahre wir leben und wie verschwindend gering eure Lebensspanne ist. Noch ein Grund als Drache zu leben. Alena, ich verstehe dich nicht, wieso du an diesem Menschenkörper festhältst. Du wirfst das wertvollste Geschenk achtlos weg!"
Ich schüttelte den Kopf: "Lenk nicht ab! Ich konnte keinen Drachenschlaf halten und für eine kurze Zeit alles vergessen. Ich weiß, dass Drachen intensiver empfinden - ihr seid damit geboren worden, ihr wisst damit umzugehen! Das ist auch der Grund, warum ich als Mensch weiter leben möchte. Ich bin in diesem Körper geboren worden und weiß damit umzugehen!"
Ich zeigte an mir herunter: "Diese Hülle ist mir vertraut. Das Menschsein hat seine Vorteile..."
"Echt?", ertönte hinter mir die freundlich - lakonische Stimme, die ich die letzten Jahre kennen und lieben gelernt hatte.
"Dar'sal!", rief ich aus, als sich zwei kräftige, federbesetzte Arme um meine Hüfte legten und mich regelrecht umschlangen.
Ich legte beide Arme über seine und lehnte meinen Kopf an seine mit Federn geschmückte Brust.
"Lässt dich diese fliegende Echse nicht in Ruhe?", wollte Dar'sal wissen.
Ich musste gegen meinen Willen kichern, als To'rirs Augen einen wütenden Ausdruck annahmen und sich zu kleinen, blitzenden Schlitzen verengten.
Beschwichtigend griff ich ein: "Dar'sal! Ich weiß zwar, dass Bauarbeiter einen rüden Tonfall an den Tag legen, aber du könntest wirklich etwas höflicher zu dem D R A C H E N To'rir sein!"
Ich betonte das Wort „Drache", weil ich Dar'sal schon tausendmal gesagt hatte, dass To'rir es hasste, als Echse beschimpft zu werden. Er konnte es nicht verstehen, wie Dar'sal auf die Idee kam, ihn mit einem Staubkriecher zu vergleichen.
"Jetzt nimmst du ihn wieder in Schutz und nachher beschwerst du dich, dass er dich nicht in Ruhe lässt, weil du kein D R A C H E werden willst!", verteidigte sich Dar'sal.
Mein rot anlaufendes Gesicht verhinderte nicht, dass To'rir mir einen bitterbösen Blick zuwarf und mir in den Kopf ein ‚Verräter' hineindachte. Seine Verachtung traf mich körperlich, so sehr missfiel dem Drachen die Situation.
"Mein lieber Drache! Werde nicht unfair! Du sagst, dass Drachen ein Kollektivbewusstsein haben und ihre Seele nicht voreinander verschließen. Da wir Somaner das nicht können, gleichen wir das durch Kommunikation aus. Also! Ich denke, dass deine Schwester von jedem meiner Worte, die du gehört hast, weiß."
To'rir senkte den Kopf und wäre er kein roter Drache gewesen, hätte er sicherlich einen roten Kopf erhalten.
"Verzeihung!", sagte er laut und ich war mir sicher, dass er es ernst meinte.
Er hatte für heute seine Lektion gelernt. Ich lachte. Ich wusste, dass die beiden sich sehr mochten, obwohl es nach außen hin nicht den Anschein hatte und sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu streiten begannen. To'rir bewunderte die Gestaltwandlung des Symbionten, die keinerlei magische Energie benötigte, weil sie zu seinem Wesen gehörte und Dar'sal bewunderte den Drachen ob seiner wunderschönen Gestalt und Kraft, wie sie nur ein Drache besitzen kann. Dar'sal verwandelte sich in einen Somaner und wieder versetzte es mir einen kleinen Stich, weil ich ihn in seiner engelsgleichen Gestalt viel zu gern und leider immer viel zu kurz bewundern konnte. Ich schüttelte meinen Kopf und wollte das traurige Gefühl von mir abschütteln.
"Wieso bist du hier? Hast du mich gesucht?", wollte ich von dem Symbionten wissen.
Dar'sal grinste: "Nur so. Ich mache heute früher Feierabend."
Ich blickte ihn erstaunt an. Das war ich nicht von ihm gewohnt. Dar'sal arbeitete genauso hart wie ich und nur Balon, der von Natur aus eher gemütlicher veranlagt war, schaffte es manchmal, uns beide zur Vernunft zu bringen, indem er darauf bestand, dass am nächsten Tag noch genug Arbeit auf uns warten würde. Und er hatte recht, denn mit dem Bau der neuen Stadt kamen wir erstaunlich gut voran, weil jeder, der zwei gesunde Arme und Beine hatte, nach Leibeskräften mit anpackte.
"Und Xera und Semmin?", wollte ich wissen.
Wir vier, Dar'sal, ich und die beiden Elfen, waren ein unzertrennliches Gespann.
"Feierabend", kam die kurze Antwort.
Überrascht blickte ich Dar'sal an und begann etwas zu ahnen: "Und die anderen?"
"Feierabend", Dar'sal konnte sich ein kurzes Grinsen nicht verkneifen.
Langsam bildeten sich Lachfalten auf seinem sonst unbewegten Gesicht.
To'rir schnaubte und murmelte etwas von: "...typisch Somaner..."
Ich zuckte mit den Schultern: "Gut!"
Ich hatte mich schon in den frühen Morgenstunden zu diesem Platz geschleppt, wo mich To'rir und Dar'sal überrascht hatten. Ich wollte Zeit zum Nachdenken haben, wollte nicht, dass mich jemand in meinen Gedanken störte. Ich war mir dabei zwar ziemlich jämmerlich vorgekommen, aber gleichzeitig war mein eigenes Elend so groß, dass ich das Gefühl hatte, an diesem Platz allein und zurückgezogen sein zu müssen, um nicht innerlich zu zerbrechen. Schon bei dem Gedanken daran knirschte ich mit den Zähnen und ballte meine Hände zu Fäusten.
Dar'sal bemerkte meinen verbissenen Gesichtsausdruck und dass ich mit den Gedanken weit weg von ihm war.
Er allerdings wollte mich aufmuntern und fuhr mit fröhlichem Tonfall fort: "Bist du gar nicht neugierig, warum wir so früh mit dem Arbeiten aufhören?"
Natürlich war ich das! Doch, wenn ich früher neugierig gewesen war, dass ich innerlich fast zerborsten wäre, so konnte ich mich nach den Jahren auf Soma bewundernswert beherrschen. So dramatisch es klang, aber ich war nicht mehr so unschuldig wie früher - ich hatte dem Tod in die Augen gesehen und den Tod in den Augen meiner Feinde. Dadurch verlor ich meine unbeschwerte Unschuld und Ungeduld. Ich hatte nicht im Effekt oder bei einem Unfall, ich hatte absichtlich und bei vollem Bewusstsein getötet und immer, wenn ich mich daran erinnerte, befürchtete ich, dass dadurch ein Wall in mir zerbrochen war und dass mir das Töten in Zukunft leichter fallen würde - dass meine Hemmschwelle heruntergesetzt worden war!
Ich verdrängte meine düsteren Gedanken und blickte Dar'sal aufmunternd an: "Wieso haben jetzt alle Feierabend?"
Dar'sal sah freudig und aufgeregt aus, sodass ich mir dachte, er wäre mit der Neuigkeit herausgeplatzt, wenn ich ihn nicht endlich danach gefragt hätte: "Komm mit! Ich darf dir noch nicht viel verraten, aber ich habe ein Geschenk für dich."
Ab diesem Zeitpunkt war ich wirklich neugierig. Zu gern ließ ich mich entführen. Ich streichelte dem sauer dreinblickenden To'rir über die samtene Schnauze und lief mit Dar'sal los. Als ich mich nach ein paar Minuten umdrehte, bestätigte sich der Eindruck, dass der Drache immer noch da war und mir mit traurigen Augen hinterher blickte. Ich blieb stehen und betrachtete seine funkelnden Schuppen. Er schwebte in einem Schauer von roten Wassertropfen, die bei jedem Atemzug, bei jeder Kopfbewegung, jedem Anspannen der mächtigen Muskeln unter seiner dicken Haut glänzten und tanzten. Er wirkte in dem hellen Sonnenlicht weniger wie ein Drache als vielmehr wie ein perfekt geschliffener, kostbarer Rubin. Ich seufzte, nachdem ich tief eingeatmet und dann den Atem vor Bewunderung lange angehalten hatte. Erst da wurde ich mir Dar'sal bewusst. Mein schlechtes Gewissen plagte mich sofort, nachdem ich an Dar'sal dachte. Die ganzen Monate hatte ich versucht, still, heimlich und leise zu trauern, damit ich nicht auch noch Dar'sal enttäuschen und traurig machen würde - aber nun war die Sehnsucht nach dem Drachen wieder erwacht. To'rir hätte mir nicht von den Leiden seines Vaters erzählen sollen und er hätte nicht in seiner ganzen Drachenpracht vor mir stehen und diese Sehnsucht wieder in mir wecken sollen.
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