'Die Krankenpflege, der Aufbau der neuen Stadt, alles nimmt mich völlig ein! Yyro'ha, Dar'sal, Xera und Semmin helfen mir nach Leibeskräften, aber meine eigenen Ansprüche an mich als Magierin sind viel zu hoch! Egal, ob Tag, ob Nacht, ich bin ständig in Bewegung! Selbst der Schlaf bringt mir keine Erleichterung. Meine Träume verraten mir, dass ich nicht loslassen kann: Sogar in meinen Träumen kümmere ich mich um Kinder, Alte, seelische oder körperliche Kranke und Verletzte. Ich habe keinerlei Abwechslung, doch sollte ich die Somaner sich selbst überlassen? Meine in mir wohnende Macht verpflichtet mich geradezu, sie zum Guten einzusetzen. Aber weißt du was? Ganz tief in mir weiß ich den wahren Grund, warum ich unermüdlich versuche, mich zu geißeln: Ich habe Angst, zu enden wie Parim und Ro'il'tara. Sie hatten am Anfang auch die Macht besessen, hatten sie zu Beginn zum Guten eingesetzt, aber irgendwann schlug ihre Macht in Machtgier um, allmächtig herrschten sie über die Somaner und verloren fortan ihre Würde! Sie stahlen die Macht, indem sie andere Magier töteten und deren Magie in sich aufnahmen. Sie verschrieben sich der schwarzen Magie, wollten mehr und mehr und immer mehr und ich will nicht enden wie sie!'
'Wenn es ihnen einmal so wie dir ergangen war?', fragte mich To'rir in Gedanken.
Erschrocken blickte ich zu ihm auf. Ich saß im Gras zwischen den Pranken meines Drachensohnes gebettet. Ich hatte ihm unbewusst meine Seele geöffnet, hatte ihm in Gedanken meine Qual mitgeteilt. Durch die Verbundenheit unserer beider Seelen hatte To'rir nicht nur meine Gedanken gehört - er hatte auch mein Leid gespürt, Szenen gesehen, die sich im Inneren meines Kopfes abgespielt hatten, während ich ihm den Grund meiner Traurigkeit und Lebensmüdigkeit geschildert hatte. To'rirs Worte hatten eine Saite in meiner Seele zum Schwingen gebracht und ich forderte ihn auf weiterzusprechen.
To'rir rieb seine weiche, samtene Schnauze an meiner Wange: "Wenn sie so wie du am Ende ihrer Kräfte waren und für sich beschlossen hatten, dass sie ihre Macht nicht für die anderen mehr nutzen wollten? Wenn sie sich ausgenutzt gefühlt hatten? Wenn ihnen kein aufrichtiger Dank mehr entgegen gebracht worden war sondern Forderungen über Forderungen? Wären nicht die Somaner Schuld daran gewesen, dass sie sich so entwickelt hatten, wie du sie kennengelernt hattest? Wäre das nicht eine Erklärung, warum sie den dunklen Weg beschritten und so viel Leid verbreitet hatten? Bist du nicht auch in dieser Gefahr, so sehr du dir auch wünschst, nur Gutes zu tun? Ist die Trennung zwischen Gut und Böse nicht nur ein schmaler Grat, auf dem du balancierst? So, wie ich dich leiden sehe, halte ich das für möglich und deswegen mache ich mir Sorgen um dich."
Ich tauchte tief in seinen Augen ein: "Das wäre möglich. Das klingt logisch."
To'rir schnaubte ärgerlich, sein warmer, köstlicher Atem strich über meine Wange: "Logik! Wann lernst du endlich, dass du auf deine Gefühle hören sollst?"
"Meine Gefühle sind meine Macht - ich höre schon lange auf sie. Aber..."
"Kein Aber! Das Herz, die Seele kann nicht lügen! Der Verstand kann lügen, weil er geformt wurde. Die Seele in ihrer reinsten Form ist klarer und schöner als ein Diamant und kann nicht verdorben werden."
Ich lachte bitter auf: "Welche Theorie haben Drachen über die Seele schlechter Somaner?"
To'rir erhob sich ruckartig, sodass ich beinahe nach hinten gefallen wäre, hätte ich mich nicht reflexartig mit meinen Armen abgestützt. Ich stand auf und wandte mich dem roten Drachen zu, sah, wie seine Augen wütend kleine, goldene Blitze verströmten.
"Hat dir die Seele meines Vaters so wenig offenbart oder warst du schon zu lange bei den Somanern?"
Ich schwieg. Dran'gorr und Xyma'la, meine Drachenseele, waren so eng vereint gewesen, wie es noch nie zwischen einem Menschen und einem Drachen geschehen war und auch nie wieder geschehen würde. Doch hatte diese Vereinigung in meiner kleinen Menschenseele viel mehr Fragen als Antworten aufgeworfen und auch die Drachenseele in meinem Menschenkörper konnte dieses Potenzial nicht erfassen, da ich als Mensch und nicht als Drache geboren worden war. Es war nicht leicht, diesen Umstand in Worte zu fassen.
Ich schüttelte traurig den Kopf: "Ich bin kein Drache. Daher habe ich auch nicht das Potenzial für euer umfangreiches Wissen."
To'rir beruhigte sich. Er ließ sich schnell aus der Fassung bringen. Er wäre als Mensch oder Somaner ein rebellischer Teenager gewesen. Er war noch jung und ungestüm - anders als Dran'gorr.
"Die Seele", begann To'rir in einem Tonfall, der mich an die Predigt eines Vaters vor seinem Kind erinnerte, "kann nur durch den Verstand überdeckt werden. Bei Parim und Ro'il'tara stellte der Verstand eine Mauer dar, die sich um ihre Seelen herum gebildet hatte."
Ein schrecklicher Schmerz durchzuckte meine Seele und durchbohrte mein Herz.
Ich keuchte auf, krümmte mich unter dem Schmerz zusammen und stieß aus zusammengebissenen Zähnen wütend hervor: "Hätte ich die Mauer nicht zerstören können? Jede Nacht wache ich schweißgebadet auf, nachdem ich endlich eingeschlafen bin und das Entsetzen meiner Tat kurz vergessen habe. Wäre ihr Leben zu retten gewesen, wenn ich die Mauer um ihre reine Seele zerstört hätte?"
To'rir nickte ernst: "Das hättest du. Jahrzehnte, Jahrhunderte zuvor, aber nicht mehr zu dem Zeitpunkt, als du auf Soma gestrandet bist. Ihre Seelen sind unter der Mauer lange Zeit zuvor qualvoll erstickt, verblüht wie eine welke Rose. Selbst, wenn du die Mauer zerstört hättest, auch dann wären sie gestorben, nur langsamer, qualvoller. Du hast ihnen durch den schnellen Tod eine große Gnade gewährt."
Mein Puls raste noch, als ich versuchte mich aufzurichten. Die Schmerzen in meinem Inneren verebbten langsam.
"Ich dachte, eine Seele ist unsterblich?"
To'rir legte sich vor mir hin und ich nahm wieder Platz zwischen seinen Pranken, sog seine Worte ein, die sich wie Balsam über meine wunde Seele legten und den Schmerz linderten: "Die Essenz der Seele ist unsterblich, aber das Wesen, das, was Parim ausmachte, was zu seiner Seele gehörte, war unwiederbringlich verloren. Sein ‚Ich‘, das in seinem Körper durch ihn handelte, seine innere Identität, sein Geist, die Kraft der Seele, welche denkt und Vorstellungen bildet, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gut und Böse entscheidet, all das macht den Menschen in seiner Würde, in seinem Geist und seiner Gnade aus. Dies aber war bei Parim erloschen. Ohne seine Seele ist sein Körper nur noch wie ein 'Fisch ohne Wasser'. Kannst du dir einen Menschen, einen Somaner oder einen Drachen ohne Seele vorstellen?"
Ich verneinte. Ich lehnte meinen Kopf an seine mächtige Brust und spürte, wie sie sich hob und senkte, wenn er atmete, hörte das Rauschen der Luft in seinen Lungen. Mein Herzschlag war eins mit seinem.
"To'rir, warum konnte ich das nicht selbst erkennen?"
To'rir antwortete belustigt: "Weil du kein Drache bist!"
Ich seufzte. Ich fühlte mich seltsam getröstet, auch wenn dadurch das Blut von meinen Händen nicht gewaschen war, so war das nagende Schuldgefühl in meiner Seele gedämpft. Ich konnte mit der Schuld zweier Morde besser umgehen.
"Wieso hattest du eine solche Wut in dir?", wollte ich von To'rir wissen.
Der Drache schwieg lange.
Danach flüsterte er: "Dran'gorrs Trauer ließ meine Seele bluten und du hattest deine Seele für seinen Schmerz verschlossen!"
Ich schloss die Augen: "Für mich war es auch nicht leicht."
To'rir blickte gedankenverloren in die Weite des Himmels: "Du hattest jemanden, der noch einen Platz in deinem Herzen einnahm. Vater hatte niemanden. Yli'on und ich hörten ihn jede Nacht singen. Er hat in einer Weise gesungen wie noch nie ein Drache zuvor. Er liebt dich sehr und ist von Trauer und Schmerz erfüllt, dass du nicht bei ihm bist. Je trauriger wir Drachen sind, desto schöner, melodienreicher, bildhafter wird unser Gesang. Plötzlich verstummte sein Gesang. Im ersten Sommer nach Parims Tod. Wir flogen zu den Eisbergen, in denen er sich aufhielt, jedoch wir fanden ihn nicht mehr. Wir spürten nicht einmal seine Anwesenheit. Auch seinen Körper fanden wir nicht."
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