Jede Kunsterscheinung hat mehr oder weniger Wurzeln in der Vergangenheit; die Pop Art hat sie vor allem in der Dada-Bewegung und im Surrealismus. (Genauso wie Dada und Surrealismus niemals Stile waren, ist auch Pop kein Stil.) Man kann selbst Picasso und Fernand Leger als Vorläufer der Pop Art bezeichnen.
Mit den Ready-mades von Marcel Duchamp hatte man die bislang radikalsten künstlerischen Kreationen zum Vorbild. Duchamp malte gar nicht erst das Industrieprodukt, sondern er nahm einen fertigen Gegenstand und erhob ihn durch seine Signatur zum Kunstobjekt. Geschehen 1917 — und immer noch scheiden sich am Flaschentrockner und am simplen Urinal die Geister, können viele nicht begreifen, dass es sich dabei um Kunst handeln soll.
In dem alltäglichen, lediglich ausgewählten Gegenstand Flaschentrockner manifestiert sich eine Idee: Das Ordinäre wird zur Kunst erklärt. Nicht der Gegenstand selbst ist Kunst und schon gar nicht die Signatur. Duchamp fasste es so: „Ich bin an Ideen interessiert, nicht in erster Linie an visuellen Produkten." Wie wenig sein Interesse an ein bestimmtes Objekt gebunden war, beweist die Tatsache, dass einige Ready-mades verlorengingen und Duchamp sie einfach durch neue ersetzte oder er die Erlaubnis gab, sie in kleinen Auflagen zu reproduzieren. Hier bereits eine Parallele zu Andy Warhols Kunstwerk-Massenproduktion.
Als ein weiteres Beispiel früher Vor-Pop-Art darf man das berühmte Pelzgeschirr von Meret Oppenheim betrachten. Da wurden so banale Gegenstände wie Teller, Tasse und Löffel mittels des sicher zur Nahrungsaufnahme untauglichen Materials Fell ähnlich verfremdet, wie später die weichen Toiletten und Zahnpastatuben von Claes Oldenburg mittels ungewöhnlichen Materials von der einfachen Verständnisebene ihrer Muster gelöst wurden. Eine Toilette aus weichem Stoff ist eben keine eindeutige Darstellung einer Toilette mehr, sondern ein eigenständiges, künstlerisches Objekt.
Es hat keinen Beginn der Pop Art in Form einer Initialzündung gegeben. Die Jahre der Pop Art, vornehmlich die 60er, waren den 20ern in Vielem ähnlich. Beide Dekaden waren einerseits Perioden der Unruhe und des Widerstandes gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, andererseits waren sie Jahrzehnte reicher Kreativität. Das eine sah die Russische Revolution noch am Anfang, eine starke sozialistische Bewegung in Deutschland der Weimarer Republik und in ganz Europa eine aktive nonkonformistische Intelligenz. Die Jugend in den 60er Jahren stellte in einer weltweiten kulturkritischen Revolte die bürgerlichen Werte des „Establishments" in Frage. Das neue Selbstverständnis äußerte sich in Kleidung, Haartracht, sexueller Liberalität und gesellschaftskritischen Bewegungen wie der „neuen Linken".
Die Selbstbefreiung hatte jedoch ihre tragischen Seiten: In Berkeley, Kalifornien, wurde ein Student erschossen und über hundert weitere verletzt. In Kent, Ohio, gab es bei Ausschreitungen und Demonstrationen 1969 vier Tote. In Deutschland wurde der Tod des Studenten Benno Ohnesorg zum Beginn blutiger Straßenschlachten. Trotz brutaler Spätfolgen in Deutschland, Frankreich und Italien war der Geist der 60er Jahre im Kern auf friedliche gesellschaftliche Veränderung ausgerichtet, was die APO (außerparlamentarische Opposition) den „langen Marsch" durch die Institutionen nannte. Durch Überreaktion und gegenseitige Provokation eskalierte die Entwicklung.
Ein Element internationaler Kommunikation der protestierenden Jugend war die Rock-und Pop-Musik der Beatles, der Rolling Stones, der Doors, von Bob Dylan, Jimmy Hendrix, Janis Joplin, Frank Zappa und vielen anderen, die damit im Gegensatz zu den meisten anderen zeitgenössischen Musikrichtungen eine wirkliche gesellschaftliche Relevanz besaß. Die Schlüsselsätze „Give peace a Chance" und „Life is very short and there is no time for fuzzing and fighting" stammen von John Lennon. Die Pop-Musik war eine emotionale Entladung ähnlich wie die Pop Art in der Bildenden Kunst.
Ohne die Einbeziehung der Rahmenbedingungen der späten kapitalistischen Gesellschaft, besonders in den USA, ist Pop nicht zu erklären.
Vorwiegend der Besitz bestimmt hier den gesellschaftlichen Status eines Menschen, die Umwelt erlebt man durch die Windschutzscheibe seines Autos, der Fernseher wird zum Fetisch. Wer nicht konsumiert, hat nicht wirklich Anteil am Leben. Ohne ständig steigenden Konsum und phasenverschoben steigende Investitionen kann eine kapitalistische Gesellschaft nicht existieren. Deshalb wird der Konsument mit Werbereizen überflutet; es gibt keine Möglichkeit, sich dem „Big Brother" zu entziehen. Die „Coca-Colarisierung" ist total. Die permanente Aufforderung zum Konsum geht durch alle Medien. Die Reklametafeln prägen das Stadtbild. Sie sind so groß geworden, dass man das dazugehörende Gebäude kaum noch sieht.
Die Straßen von Los Angeles, der in diesem Sinne „amerikanischsten“ Stadt der USA (L. A. ist America's America) verlaufen zwischen einem Spalier von Werbetafeln (Abb. 2.4); diese „Außenmarkierungen" der Freeways sind oft aufwendig konstruiert und haben nichts als Werbung zu tragen. Die Regeln, nach denen die Tafeln gestaltet werden, sind einfach: je größer, desto besser, je knalliger die Farben, um so effektvoller, je mehr Bewegung und Geflacker, um so auffälliger. Die Welt der Reklame bestimmt die Stadtlandschaft des amerikanischen Westens oft mehr, als es die Architektur im eigentlichen Sinne vermag. Wie ein Vexierbild scheinen sich die Zeichen zur Erfüllung ihrer kommerziellen Aufgaben immer größer und aggressiver gebärden zu müssen. Ihrer Allgegenwart zu entfliehen, scheint unmöglich, solange das Auto die Stadtbild von Los Angeles so eindeutig bestimmt, solange ihm alle Opfer an verfügbarem Land, Energiereserven und der Gesundheit der Bewohner gebracht werden.
Der Gesamteindruck hat die Säuberungswelle des „Highway Beautification Act" aus dem Jahre 1965 überlebt. Damals wurde man sich der Umweltverschandelung durch die Bill Boards bewusst und im Verlaufe der Aktion wurden etwa 500 000 Reklametafeln entfernt. Ausgerechnet zu dieser Zeit verlangte der Architekt Robert Venturi, wenn überhaupt etwas vergrößert werden sollte, dann die Bill Boards. Venturi sieht in ihnen ein vitales Element der Stadtgestaltung. Der Literat Tom Wolfe drängt noch stärker in diese Richtung, indem er behauptet, die Werbedesigner seien den ernsten Künstlern um wenigstens eine Dekade voraus. Er empfiehlt letzteren, ein Jahr bei Raymond Loewy, dem bekanntesten Commercial Designer Amerikas, in die Lehre zu gehen.
Ein weiteres Paradebeispiel einer Stadt, deren Stadtbild durch Werbung bestimmt wird, ist das amerikanische Spielerparadies Las Vegas. Die populären Symbole des „Commercial Strip" (auf kommerziellen Gewinn ausgerichtete und dementsprechend gestaltete Straßenlandschaft) prägen diese Stadt wie keinen anderen Ort dieser Welt. Nach dem Motto „If you can't beat 'em, join 'em" (wenn du nicht dagegen ankommst – mach halt mit) haben die Pop-Künstler die so erfolgreichen Symbole der Bill Boards aufgenommen: das Markenprodukt, die Film-und Musikstars, Schrift und Zahl. Nur werden in der Pop Art die banalen Gegenstände oder menschlichen Gestalten in ihren Proportionen verzerrt oder das Material verändert oder sie in einen ungewöhnlichen Zusammenhang gestellt, um auf diese Weise einen Bewusstseinsprozess anzuregen. Pop Art ahmt nicht die Werbung nach, sondern benutzt ihre Ikonographie in neuen Arrangements, um zu Aussagen zu gelangen, die von naiver Verherrlichung bis zu beißender Satire reichen können. Weil hier ein typisch amerikanischer Wesenszug zu Tage tritt, lehnt Lucy Lippard den früher für Pop Art synonym gebrauchten europäischen Terminus „Neo-Dada" zu Recht ab.
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