Langsam und leise schlich er wieder zu dem Fenster zurück. Es war an der Zeit, diese nächtliche Exkursion zu beenden. Er würde den gleichen Weg nehmen, den er auch hierhin gekommen war. Also erst einmal um das Haus herum und zurück zur Hintertür. Bevor er sich auf den Weg machte, lauschte er noch einmal angestrengt. Aber es war ruhig, nirgends auch nur ein Geräusch zu hören.
Ron schlich gerade auf das Küchenfenster zu, als ein Rascheln hinter ihm ertönte. Erschrocken wandte er sich um und konnte eine schwarze Katze ausmachen, die ihn aus leuchtenden Augen ansah. Reflexartig trat er einen Schritt zurück. Aber sein Fuß fand keinen festen Boden und mit einem erstickten Aufschrei fiel der Redakteur durch einen Dornenbusch hindurch in ein offenes Kellerloch. Unsanft landete er auf dem Rücken und schlug mit der Stirn gegen die Schachtwand. Ron schüttelte ein wenig benommen den Kopf. Der Schacht war nicht tief und wurde halb durch den Busch verdeckt. Der musste im Laufe der Zeit vom Rasen her immer weiter Richtung Hauswand gewuchert sein, ließ aber gut die Hälfte der Öffnung zur Wand noch frei. Ron fluchte über so viel Nachlässigkeit, denn der Schacht hätte abgedeckt werden müssen. Dann stemmte er sich mühsam hoch. Sein linker Knöchel schmerzte. Vorsichtig tastete er ihn ab, seufzte aber dankbar auf, als offensichtlich nichts gebrochen war. Eine Verstauchung vermutlich nur. Aber das reichte ja schließlich auch schon. Noch einmal befühlte er den Fuß und stieß auf etwas Weiches. Zum Glück hatte er die Taschenlampe bei dem Sturz fest in der Hand gehalten und ein kurzes Anleuchten des weichen Gegenstandes zeigte ihm, dass er einen dunkelgrünen Rucksack gefunden hatte.
Instinktiv blickte Ron an der Hauswand hoch und konnte in der ersten Etage über sich ein kleines Fenster ausmachen. Hieß es nicht, der Einbrecher sei in einem Badezimmer festgenommen worden? Konnte es sich bei diesem Rucksack vielleicht um den von Inat handeln? Der Stoff war feucht und modrig aber noch ganz passabel, da es sich um einen militärischen Ausrüstungsgegenstand handelte. Ron überlegte kurz, ob er jetzt nicht die Polizei über seinen Fund informieren müsste, verwarf den Gedanken aber. Das könnte er später immer noch machen. Zunächst siegte seine Neugier, was sich darin befinden würde.
Es dauerte eine Weile, bis er in seiner Pension angelangte. Einerseits behinderte ihn sein verletzter Fuß, andererseits fuhren um diese Zeit weder Busse noch Bahnen, so dass er sich erst einmal ein Taxi rufen musste. Das tat er aber erst, nachdem er schon ein ganzes Stück vom Haus des Generalstaatsanwaltes entfernt war.
Jetzt kühlte er die Schwellung, indem er ein Kühlpack mittels Verband am Fuß befestigte. Der Rucksack, sowie das Foto, lagen auf seinem Schreibtisch. Vorsichtig öffnete er den moderigen Stoff und förderte zunächst ein Gerät zu Tage, das er unschwer als Nachtsichtgerät identifizierte. Danach folgte ein Dietrich - Set, sowie ein Luftpolsterumschlag. Der Umschlag war ziemlich vermodert, aber geschlossen. Vielleicht würde sein Inhalt besser aussehen. Ron hoffte das jedenfalls. Mehr fand er in dem Rucksack nicht. Aber jetzt war er sich ganz sicher, dass es sich um die Sachen des Einbrechers Oliver Inat handeln musste. Ron vermutete, dass der Mann den Sack aus dem Fenster im ersten Stock hatte fallen lassen. Es musste reiner Zufall gewesen sein, dass er in den Schacht fiel und die Polizei ihn nicht entdeckt hatte.
Erneut meldete sich der Gedanke, dass er seinen Fund umgehend melden müsste. Ron verdrängte ihn. Dann öffnete er vorsichtig den Umschlag und schüttete den Inhalt auf seinen Schreibtisch. Es handelte sich um mehrere handschriftlich verfasste Zettel, die sich dank der Luftpolsterfolie in einem guten Zustand befanden.
Ron nahm seinen Block zur Hand und übertrug die Texte von den Zetteln auf das Papier. Dabei versuchte er automatisch eine gewisse Ordnung herzustellen. Wie er nach kurzer Zeit erkennen konnte, handelte es sich um Listen von Namen und deren Verbindungen untereinander. Einige kannte er, andere wiederum waren ihm völlig unbekannt. Auch die Namen, auf die verschiedene Querverweise zeigten, kamen ihm teilweise bekannt vor. Es handelte sich um Industrielle oder Firmen, von denen er schon gehört hatte. Es war unschwer daraus zu lesen, dass es sich hier um eine Auflistung vermutlich korrupter Politiker und deren ‚Sponsoren‘ handelte. Ron musste an seine Kollegen denken, die sich ja mit dieser Thematik befassten. Die Zettel würden ihnen bei ihren Recherchen bestimmt helfen können. Sorgfältig packte er alles wieder in den Umschlag zurück.
Anschließend warf er einen Blick auf das Foto. Viel war nicht zu erkennen, da der ganze obere Teil des Bildes fehlte. Jemand musste das Foto in der Mitte durchgerissen haben, das vermutlich eine Porträtaufnahme gewesen war. Jetzt konnte er lediglich noch die untere Gesichtshälfte bis zur Nase erkennen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, suchte Ron im Internet nach einem Foto des Generalstaatsanwaltes. Es gab nicht viele davon, aber nach einiger Zeit wurde er fündig. Man hatte ein recht brauchbares Bild auf einer Presseveranstaltung der Staatsanwaltschaft geschossen. Ron druckte das Foto aus, dann verglich er die beiden Bilder. Mit ein wenig Phantasie könnte es sich um die gleiche Person handeln, resümierte er dann. Rasch schob er die Unterlagen zusammen. Es wurde Zeit für das Bett, wollte er noch ein paar Stunden Schlaf bekommen.
IV. Das Geheimnis der Karte
Obwohl Ron die Nacht über wenig Schlaf bekommen hatte, erwachte er schon recht früh und fühlte sich topfit. Den Rucksack mit dem Einbruchswerkzeug deponierte er in dem kleinen Safe, dessen Nummer er zuvor eingestellt hatte. Ebenso verfuhr er mit einer Kopie der handschriftlich verfassten Zettel und seiner Notizen, die er auf seinem Kopiergerät und Drucker anfertigte. Den Umschlag mit den Zetteln steckte er anschließend ein. Er freute sich schon auf die Gesichter seiner Kollegen Meizel und Changa, wenn er ihnen diese Unterlagen geben würde. Hiermit bekamen die beiden schließlich eine Menge Informationen über die Verbindungen der Politiker zur Industrie. Vielleicht würden sie ja auch herausfinden, wer der Verfasser dieser Notizen war.
Zurück in der Redaktion sah Ron seinen Arbeitsplatz wieder von dem jungen Mann besetzt, der offensichtlich seinen Weg aus der Kaffeeküche zurück gefunden hatte. Ron überlegte, dass es vielleicht sinnvoller sei, ihn an einen der anderen verwaisten Schreibtische zu setzen. Aber das hatte Zeit. Zunächst drängte es ihn, mit Meizel und Changa wegen der gefundenen Unterlagen zu sprechen. Auch Egon Müller schien wieder gesund zu sein, denn er kam gerade mit einem Kaffeebecher aus der kleinen Küche.
Ron nickte dem Mann freundlich zu: „Guten Morgen Herr Müller. Geht es ihnen wieder besser?“
„Danke, ja. Und ihnen auch einen guten Morgen.“ Müller schob sich an ihm vorbei und verschwand in Richtung seines Schreibtisches. Ron warf einen kurzen Blick in die Kaffeeküche und begrüßte Maike, die ihrer Kaffeekochaufgabe nachging. Kurz angebunden grüßte sie zurück.
Zinad Changa fand er an dessen Schreibtisch, wo der Inder heftig auf seiner Tastatur herumtippte. Changa maß vielleicht ein Meter achtundsechzig und war eher von gedrungener Statur. Der Sechsundfünfzigjährige trug eine dicke Brille und verfügte nur noch über spärliche Haare. Ron sah über dessen Kopf hinweg auf den Text am Bildschirm und stellte fest, dass es sich um einen Artikel über irgendein Fußballspiel handelte.
„Morgen Zinad. Alles klar?“, grüßte er den Kollegen.
Der hob nur kurz den Kopf und sah Ron mit ausdruckslosen Blick an. „Ja, alles klar.“ Dann tippte er wieder wie wild an seinem Artikel.
Ron, der ein feines Gespür dafür hatte, wenn etwas so gar nicht stimmte, legte Zinad die Hand auf die Schulter. „Nichts ist klar. Was ist los, Zinad? Ich habe etwas für euch.“ Er hielt den Umschlag hoch. „Äußerst brisante Informationen, die ihr für euren Korruptionsfall bestimmt gebrauchen könnt.“
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