»Weil es gefährlich ist?«, fragte das ältere der beiden Mädchen.
»Das auch, Mädchen, das auch. Nein, was passiert, wenn eine junge und zudem sehr ungewöhnliche Frau allein durch die Lande zieht? Sehr ihr, Althea ist zwar körperlich zur jungen Frauen geworden, innerlich aber in vielen, eben diesen Dingen immer noch ein kleines und sehr naives Mädchen, selbst nach ihrem Erlebnis mit Galvin. Sie weiß nicht, dass sie die Begehrlichkeit der jungen Männer weckt, und das lenkt Aufmerksamkeit auf sie. Besonders einer, Taisto, der Sohn eines Clansführers, stellt ihr regelrecht nach. Sie weist ihn ab, aber später soll sie es noch bitter bereuen, ihn nicht gleich mit aller Gewalt zum Schweigen gebracht zu haben, doch zu dieser Zeit hat sie andere Sorgen.
Schatten ziehen am Horizont herauf, nicht alle saranischen Schiffe kehren zurück. Die es schaffen, berichten von leeren Siedlungen und ausbleibenden Händlern. Althea gelingt es, aus diesen Neuigkeiten eine Karte mit Phileas’ ungefährem Aufenthaltsort zu zeichnen. Er ist nahe, sehr nahe sogar. Altheas Großvater ist der Letzte, der zurückkehrt, und er ist dem Tode geweiht. Er und seine Männer waren dabei, als eine Siedlung von einer unsichtbaren Horde förmlich überrannt wurde, und Regnar wurde von einem von Phileas’ Wesen angefallen, dem er nur durch einen Sprung ins Meer entkam. Es ist Althea ein Rätsel, wie er solange überleben konnte, und sie zieht sehr schnell einen für sie alle wichtigen Schluss: Vertragen die Wesen kein Meerwasser, das darin enthaltende Salz? Denn aus Yenis Träumen weiß sie, dass diese Wesen im Flusswasser sogar schwimmen können.
Althea kann ihren Großvater heilen, aber sie kann nicht verhindern, dass er mehr von ihrer Gabe zu sehen bekommt, als ihr lieb ist. Er bleibt für immer verändert, wird zu einem Ungeheuer. Sein Anblick macht auch den Zögerndsten unter den Führenden Temoras und Sarans klar, dass sie etwas tun müssen. Sie beschließen, eine Versammlung aller Führer ihrer beiden Völker auf dem kommenden Einheitsfest abzuhalten, und laden zögernd die beiden Gebannten, Bajan und Phelan, mit ein.
Altheas Großvater Regnar ist unterdessen gehörig ins Grübeln geraten. Er macht sich auf, seine eigene Vergangenheit zu erforschen. Tief in den Sümpfen Sarans existiert ein weiteres Tor mit einem Todesring, ein Ort, den seine Vorfahren immer behütet und beschützt haben. Was ist seine Enkeltochter? Und damit er selbst? Er spürt, dass er dicht davor ist, das verschüttete Wissen vieler Generationen wieder auszugraben, und er schnappt sich denjenigen, mit dem sich die Mädchen noch nicht hinter einer Mauer des Schweigens verschanzen konnten: Phelan auf der weit entfernten Insel.
Jahrelang hat dieser dort ausgeharrt und seinem Freund Jeldrik bei der Sicherung des Friedens auf See geholfen. Für ihn bedeutet die Neuigkeit, dass Althea am Leben und seine Familie wohlauf ist, die Erlösung aus schweren Sorgen. Dass er nach Saran zurückkehren und am Einheitsfest teilnehmen soll, stellt ihn jedoch vor hohe Schwierigkeiten: Zum einen ist er immer noch ein aus Temora Gebannter, und zum anderen haben die Ethenier ihm blutige Rache geschworen für Yenis Tod. Regnars Neuigkeiten und Versuch, mit aller Gewalt hinter Altheas Geheimnis zu kommen, erfüllt ihn mit Unglauben: Kann es sein, dass Regnar ein direkter Nachfahre der Druidai ist, dass er es ist, der Althea ihre Fähigkeiten vererbt hat? Doch Phelan gerät nicht in Versuchung, sein Wissen mit dem alten Seeräuber zu teilen. Schließlich weiß er genau, was der mit Noemi und Althea getan hat.
Stattdessen nimmt er sich Altheas Vermutung bezüglich Phileas’ Wesen an. Er beschließt, auf eigene Faust zu handeln. Gemeinsam mit Jeldrik, der auf Befehl seines Vaters so viele Waffen als nur möglich für den höchst wahrscheinlich bevorstehenden Kampf schmieden soll, beginnt er noch eine andere Waffe herzustellen: einen ansehnlichen Vorrat Salz. So wappnen sie sich gegen ihren Feind und bereiten ihre Rückkehr nach Saran vor.«
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Die Insel
Sechstes Frühjahr nach der Flucht
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»Kannst du nicht schlafen?«
»Nein. Ich dachte, ich bleibe lieber hier und halte Wache, damit wir morgen keine böse Überraschung erleben.«
»Fehlende Ladung oder ein Feuer? Oder gar ein ungebetener Gast an Bord?« Phelan hievte sich mit einem Ächzen über die Bordwand und ließ sich neben Jeldrik fallen. Er war ziemlich unsicher auf den Beinen, denn sie hatten ihre letzte Nacht auf der Insel kräftig gefeiert, sodass er lieber nicht über die wackelige Planke an Bord kam. Jeldrik reichte ihm seine Pfeife, und er nahm einen tiefen Zug. Es war dunkel und still im Hafen. In der Ferne hörten sie das Donnern der Brandung, kleine Wellen plätscherten gegen die Bordwand, die Segel und Seile knarrten in einer leichten Brise.. eine äußerst friedliche Nacht war das. Und dennoch, Phelan konnte nicht anders, als angespannt mit allen Sinnen in die Umgebung zu lauschen. Langsam blies er den Rauch aus und reichte Jeldrik die Pfeife zurück.
Es würde ihn nicht wundern, wenn im letzten Moment doch noch etwas geschah. Nicht, nachdem er eines Morgens mit einem Dolch in der Wand über seiner Liege aufgewacht war, gefährlich dicht neben seinem Kopf. Ob die Priesterin Tzusa oder die beiden Unholde Seeko und Bado, wer auch immer dafür verantwortlich gewesen war, deutlicher hatte die Warnung nicht sein können. Die Botschaft hatte ihr Ziel erreicht: Sie sollte sie verunsichern, sodass sie sich beinahe gänzlich selbst einsperren mussten mit ihren Wachen. Jeder noch so raffiniert angelegte Versuch, der Flüchtigen habhaft zu werden, war gescheitert. Mittlerweile glaubten die Männer, Saraner, Jäger wie Ethenier, dass es nicht mehr mit rechten Dingen zuging, und die Saraner waren froh, endlich fort zu können.
Ihre Schiffe waren bis oben hin beladen mit all den Vorräten, die sie im letzten Winter angelegt hatten. Waffen, Rüstungen und nicht zuletzt das Salz, Nahrung und Wasser für die Überfahrt, Futter für die Pferde.. selbst ihre Hütten, die Palisaden und die Katapulte hatten sie abgebaut und das Holz verladen. Sie wollten Seeko und Bado nichts zurücklassen, was diese beiden Unholde für eine Flucht nutzen könnten. Jeldriks Schiff, das sie auf den Namen ›Seeschlange‹ getauft hatten, lag so tief im Wasser, dass er seit Wochen Bedenken hatte, ob sie damit über die Felsenenge der Bucht hinwegkommen würden.
Nicht nur deswegen war Jeldrik nervös. Er würde sein Schiff selbst steuern, seine erste Bewährungsprobe als Schiffsführer, und das, was sie in Saran und Temora erwartete, das ließ auch Phelan keine Ruhe.
»Hast du..?«
»Ja doch! Es ist alles erledigt«, erwiderte Phelan.
»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es die richtige Strecke ist«, brummte Jeldrik leise hinter seiner Pfeife, unhörbar für die Männer, die nicht weit entfernt am Strand schliefen.
Phelan verdrehte die Augen. »Doch, bist du, und wenn du es nicht mehr wissen solltest, dann geh rein und ziehe deine Aufzeichnungen zurate. Und hör endlich auf, deine Hand zu quälen! Du brauchst sie morgen noch.« Er fasste zu und zerrte Jeldriks gesunde Hand von der versehrten fort. »Es wird schon gut gehen. Wie oft hat Ohin dich die Strecke herbeten lassen? Zwei Dutzend Mal? Drei Dutzend?«
»Mmpf!«, meinte Jeldrik dazu nur, entriss ihm seine Hand und sagte nichts mehr. Diese Verzagtheit war ganz und gar untypisch für ihn, aber bezeichnend für ihre ganze Lage. Sie wussten nicht, was auf sie zukam.
Würden ihre Verbündeten, die ehemaligen Gefangenen, gegen die Ragai bestehen und ihnen den Rücken frei halten? Vor ein paar Tagen waren sie davongesegelt, voller Hoffnung, ihre Familien lebend wiederzusehen. Würden sich die Bewohner der Insel an ihre Abmachungen halten? Und was war mit dem Feind im Norden, ganz zu schweigen von ihren persönlichen Problemen, die in Saran auf sie warteten?
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