Der König des Südens überlebte, verlor aber all seine Schätze und seinen ganzen Besitz.
Verzweifelt und heimatlos wandte er sich an seine Brüder und bat sie, ihm etwas von ihren Ländereien abzugeben. Doch im Laufe der Jahre waren die Herzen der Geschwister hart und gierig geworden. Einer nach dem anderen schickte den bittenden Bruder wieder fort.
Verbittert zog sich der Hilfesuchende in das Palsgebirge zurück und verschanzte sich in den Bergen. Er suchte Zuflucht in dunklen Zauberkünsten und nach Rache sinnend verirrte sich sein Geist immer tiefer in den Schatten Schwarzer Magie.
Die drei Geschwister begannen sich vor der Dunkelheit des wütenden Bruders zu fürchten. Nicht mehr lange und er würde das Land, um das er sie gebeten hatte, gewaltsam einfordern. Um ihm zuvorzukommen, beschlossen sie ihren Bruder in einem Tal nahe der Berge anzugreifen.
Als die Männer am Fuß des Palsgebirges aufeinandertrafen, überlebte es keiner von ihnen. An diesem Tag verloren alle vier Geschwister ihr Leben und man sagt, die Hinterbliebenen weinten bis ihr großer Schmerz einen ganzen salzigen See füllte. Er gibt dem Tränental, dem Ort an dem Hyras Könige fielen, bis heute seinen traurigen Namen.
Auf die Throne der toten Brüder folgten ihre Kinder; im Norden und Westen zwei Söhne, im Osten eine Tochter.
Auch der Bruder aus Anastis hatte einen Sohn. Sarray. Es heißt, seine Schwarze Magie und sein Zorn soll selbst den grausamen Vater noch übertreffen, doch nach der Schlacht im Tränental verschwand der Junge.
Es wurde still um den unheilvollen Thronfolger des Südens, so dass sich die Könige und die Königin seither in trügerischer Sicherheit wiegen.
Als ich damals das erste Mal die Legende der Vier Königreiche gelesen hatte, waren meine Finger voll Erstaunen und Ehrfurcht über die Seiten gestrichen. Zuhause in Abnoba hatte ich nie zuvor von dieser Geschichte gehört.
Vielleicht lag es daran, dass man in Abnoba, dem geheimnisvollen, düsteren Wald, der sich zwischen Inli und Maris erstreckt, leicht den Rest der Welt vergessen kann.
Die Städte wahren bis heute einen respektvollen Abstand zu den Grenzen des Waldes und die Königreiche betrachten seine Größe und Unzähmbarkeit mit Ehrfurcht aus der Ferne.
Die Wege und Pfade, die in das Herz des Waldes führen, sind verschlungen und nur selten verirrt sich ein Reisender hinein. Doch jeder, der mutig genug ist weiterzugehen, immer weiter, findet eine Stadt, gebaut in die Kronen der Bäume und bewohnt von Menschen mit Augen aus Gold.
Niemand weiß, woher sie kommen oder was sie so tief in den Wald hineingetrieben hat, doch Abnoba duldet die Bewohner, die seit vielen Generationen ihre Häuser in die Kronen seiner Bäume bauen und ihre Behausungen durch schmale Brücken miteinander verbinden.
Jedes Kind, das in Abnoba das Licht der Welt erblickt, hat goldfarbene Augen. Man sagt, es sei ein Geschenk des Waldes dafür, dass die Menschen das empfindliche Gleichgewicht, das sie umgibt, achten und bewahren und bis heute ist Abnoba, mein geliebter Wald, Zuflucht, Heimat und Leben für mein Volk.
Und hier beginnt die Geschichte des Mädchens mit den Augen aus Gold.
Hier beginnt meine Geschichte.
Dann stimmt es also
Dicke, schwarze Wolken bedeckten den Horizont und verschlangen das letzte bisschen Himmelsblau. Wind kam auf und die Luft begann nach Regen zu riechen.
Doch in der kühlen Brise lag noch etwas Anderes – eine Art Überschwänglichkeit, die nur der kommende Frühling verbreiten konnte. Überall schien das Leben neu zu erwachen und unaufhaltsam durch die Adern der Welt zu pulsieren.
Unglücklicherweise fühlte ich mich heute Morgen alles andere als lebendig.
Gestern hatte ich den Rest des Proviants, den ich mir für meine Reise nach Soudale eingepackt hatte, gegessen und mein Magen knurrte laut. Und ich war müde, so müde, doch der Weg schien einfach nicht enden zu wollen.
Wenigstens war ich allein. In den letzten Tagen hatte ich auf meiner Wanderung durch Hyras ausgedehnte Steppe lediglich zwei Männer getroffen. Einen graubärtigen Händler, dem kaum ein Wort über die mürrischen Lippen gekommen war und einen arroganten Kurier, der mich keines Blickes gewürdigt hatte.
Versteht mich nicht falsch, ich bin gewiss nicht menschenscheu, gegen ein wenig Gesellschaft ist generell nichts einzuwenden, aber aus Erfahrung wusste ich, was mich in so einer großen Stadt wie Soudale erwarten würde. Lärm, Hektik, stinkende Tiere und unzählige Menschen auf viel zu engem Raum. Mit dem schönen Frieden war es dann erst einmal vorbei, so dass ich die Einsamkeit genoss, so lange ich noch konnte … Nun ja, ganz alleine war ich nicht. Mephisto begleitete mich, aber er war ein sehr schweigsamer Weggefährte und seine Anwesenheit zählte nicht wirklich.
Ich suchte den Horizont nach Hausdächern, Turmspitzen, irgendetwas, das auf eine Stadt hindeute, ab. Nichts. Soudale schien vor mir davonzukriechen, je näher ich der Lavendelstadt kam.
Plötzlich endete der Weg, dem ich bisher gefolgt war, vor einem riesengroßen Sonnenblumenfeld. Obwohl sich Hyras Sonnenblumen rein äußerlich nicht von denen, die außerhalb der Landesgrenze wuchsen, unterschieden, besaßen sie dennoch eine ganz besondere Eigenschaft. Diese Art streckte ihre Blattspitzen schon in den blassen Frühlingshimmel, da schlummerten die meisten Pflanzen noch fest in ihren Samenkörnern unter der harten und kalten Erde.
Ich blieb stehen und betrachtete das eindrucksvolle Heer gelber Köpfe. Die schlanken Pflanzen überragten mich um Längen und sahen mit ihren dunklen Gesichtern neugierig zu mir herunter. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und starrte unverhohlen zurück.
»Glaubst du, das ist eine Abkürzung?«, fragte ich Mephisto.
Mein Begleiter legte den Kopf schräg und sah mich nachdenklich an.
»Ich interpretiere das als ein Ja«, beschloss ich und ging ein paar Schritte zwischen den Sonnenblumen hindurch bis ich schließlich im Feld verschwand.
Mephisto blieb mit unverändertem Gesichtsausdruck am Rand zurück.
»Komm schon! Es wird gleich anfangen zu regnen, wir müssen uns beeilen!«
Mein stummer Freund gähnte, streckte sich und folgte mir gemächlich in das goldfarbene Pflanzenmeer hinein.
Seit einer gefühlten Ewigkeit liefen Mephisto und ich jetzt schon durch das Sonnenblumenfeld und es schien kein Ende in Sicht. Es war wie verhext, auf meinen Reisen kam mir das letzte Wegstück immer am längsten vor.
Die Luft war spürbar abgekühlt und bei jedem Windstoß tanzten die unzähligen dünnen Stängel, die uns von allen Seiten umgaben, im Kreis. Die ersten Insekten, die aus ihrem Winterschlaf erwacht waren, schwirrten laut brummend durch die Luft und Mephisto schnappte hin und wieder gereizt nach ihnen.
Ich hatte meine langen, schwarzen Haare zu einem unordentlichen Knoten auf meinem Kopf zusammengebunden, doch der Wind befreite die kürzeren Strähnen und blies sie in mein Gesicht, so dass ich sie immer wieder genervt hinter die Ohren strich. Meine Mutter predigte immer, dass ich meine Haare abschneiden solle, sie seien so schrecklich unpraktisch. Vielleicht hatte sie Recht.
Kopfschüttelnd lenkte ich meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Schritte, denn es war nicht leicht einen direkten Weg durch das Feld zu finden ohne mit einer Sonnenblume zusammenzustoßen. Konzentriert starrte ich auf meine Füße und betrachtete die ausgetrocknete Erde, die sehnsüchtig auf den kommenden Regen wartete, als Mephisto plötzlich stehenblieb und leise knurrte.
»Was ist?!«, fragte ich.
Dann hörte ich es auch. Ein leises Rascheln. Es kam von rechts, nicht weit entfernt von uns.
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