Nach seinem Vikariat wird Dallmann von der Kirche ins idyllische Lambertswalde
geschickt. Als er dort in der Dahlener Heide ankommt, löst er mit seinen halblangen Haaren und seinem alten Mercedes erst einmal einen Polizeieinsatz aus. Die Menschen halten ihn für einen Einbrecher. Schon bald ist er nicht nur wegen dieses Zwischenfalls über die Ortsgrenzen hinaus bekannt. Beliebt sind seine Veranstaltungen: So inszeniert er jährlich an Karfreitag einen Diavortrag unter der Überschrift „Jesus Christus Superstar“ und zeigt Bilder von den Festspielen im bayerischen Oberammergau. Für die DDR ein völlig ungewöhnliches Programm. Dazu erscheinen immer viele Leute. Nach 13 Jahren Lambertswalde fragt die Kirche an, ob er sich vorstellen kann, ins sächsische Braunkohlerevier zu gehen. In dieser Region mit nicht einfachen Lebensbedingungen für die Menschen werde jemand gebraucht, der biblische Grundsätze mit frischen Ideen in die heutige Zeit übertragen könne. Er kann sich das vorstellen, „denn wenn, dann wollte ich schon richtig helfen.“ So übernimmt er das Pfarramt in Espenhain mit einer Wohnung im nahen Mölbis.
Den kleinen Ort hat er vorher nur drei Mal besucht. „Da kam der Wind immer aus der falschen Richtung, von den Umweltbelastungen habe ich nicht viel gespürt.“ Doch worauf er sich eingelassen hat, merkt er recht schnell. Die Häuser sind fast immer wie im Nebel verschwunden, so dick ist die Luft. Ungefiltert blasen die Öfen des VEB Braunkohleveredlungswerk Espenhain täglich 1,6 Tonnen Ammoniak und 20 Tonnen Schwefel in die Luft. An 310 Tagen weht der Südwestwind die giftigen Dämpfe nach Mölbis. Wenn der Smog besonders schlimm ist, entlauben sich über Nacht die Bäume und die Pflanzen veröden. Die Menschen werden dafür nur wenig entschädigt. „Es gab eine Zahlstelle beim Rat des Kreises. Alle Vierteljahre bekamen da die Leute für ihr eingegangenes Gemüse Geld“, erinnert sich Dallmann. Ärzte in der Region stellen fest, dass Hautekzeme und Krankheiten wie Bronchitis oder Pseudokrupp rund um Mölbis 15 bis 20 mal häufiger auftreten als im Rest der Republik. In der DDR ist
Umweltverschmutzung generell kein Thema. Auch über die Dreckschleudern im sächsischen Braunkohlerevier wird nicht berichtet. Erst heimlich gedrehte Fernsehbilder von westlichen Kamerateams machen das noch vor der Wende publik.
Wegen der katastrophalen Umweltsituation ziehen immer mehr Menschen weg. Lebten nach dem Krieg in Mölbis noch gut 1.000 Menschen, sind es in den 1980er Jahren nur noch knapp 300. Umweltgottesdienste organisiert die Kirche schon vor Dallmanns Amtszeit. Später werden sie immer größer und die Proteste gegen das Regime lauter. „Als ich 1987 hier meinen ersten Umweltgottesdienst organisierte, kamen tausend Leute, darunter auch viel Stasi.“ In den letzten DDR-Jahren melden sich immer mehr Umweltgruppen und Kamerateams aus dem Ausland bei Dallmann. Längst ist Mölbis im Westen zu einer traurigen Berühmtheit geworden. So führt er auch Reporter aus der Bundesrepublik über die Halde und zum Werk in Espenhain. Oft wird er dabei beobachtet. Er lässt sich längst nicht mehr einschüchtern. Einmal werden sie von einem
roten Lada verfolgt. „Ich ging auf den Wagen zu. Als ich 20 Meter entfernt war, ging der Motor an und weg waren die Herren von der Stasi.“ Zu der Zeit wird Dallmann von jungen Oppositionellen gefragt, ob sie in den Heizungsraum des Pfarrhauses eine Vervielfältigungsmaschine stellen dürfen. In einer Nacht drucken sie dort 17.000 Flugblätter. Jedes Jahr im Januar wird eigentlich in Berlin der ermordeten Sozialisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gedacht. 1989, im Jahr des Mauerfalls, verlegt die DDR-Führung die Gedenkfeier nach Leipzig. Sie hofft, dass dort weniger Oppositionelle sie zu Protesten nutzen. Die Rechnung geht nicht auf: Während der Kundgebung werden die in Dallmanns Keller gedruckten Flugblätter verteilt. Später bekommt der Pfarrer Besuch von der Stasi. Doch die verräterische Druckmaschine können die Beamten nicht finden. „Wenn ich daran zurückdenke, war das schon verrückt. Darauf stand Hochverrat.“
Im Herbst 1989 spitzt sich die Situation in der DDR zu. Doch während immer mehr Menschen das Land über die grüne Grenze in Ungarn verlassen, will der Pfarrer bleiben. Er will lieber an der Veränderung des Landes mitwirken und entscheidet sich für die Oppositionsbewegung „Neues Forum“. In den Oktobertagen zieht es auch ihn zu den Montagsdemonstrationen nach Leipzig. „Alles hatte eine unglaubliche Eigendynamik bekommen. Wir haben in den Straßen die versteckten Wasserwerfer der Polizei gesehen. Gleichzeitig wurde der ARD-Beitrag ‚Die unbewohnbare Republik‘ im Fernsehen ausgestrahlt. Dazu hatte ich einen Kameramann im Spätsommer ‘89 über die schmutzigen Halden bei Espenhain geführt. Ich sollte plötzlich auf der Kundgebung vor dem Leipziger Opernhaus sprechen. Es war eine aufregende Zeit.“
Am 9. November kommt er abends von einer Musikveranstaltung nach Hause und kann es nicht fassen: „Die Straßen sind voller Autos. ‚Na Mensch, war hier ein Konzert von Peter Maffay?‘, denke ich. ‚Oder sind die Menschen auf der Flucht?‘ Ich hatte kein Radio gehört. Erst zu Hause angekommen, begriff ich, dass die Mauer offen war. Zunächst habe ich gedacht, die lassen jetzt vier Wochen Dampf ab, dann machen sie die Grenzen wieder zu.“ Erst Mitte Dezember fährt er mit seiner Familie in den Westen und besucht Bekannte bei Hof in Bayern. Zu Hause engagiert er sich weiter im „Neuen Forum“. Die Mitglieder arbeiten an Konzepten, wie es mit dem Land weitergehen soll. Von 1990 an sitzt Dallmann für die Bürgerbewegung im Kreistag. „Wir wollten nicht die Übernahme des kapitalistischen westdeutschen Systems. Wir wollten erst mal schauen, was man besser machen kann, wie ein neues Schulsystem oder ein bezahlbares Gesundheitssystem aussehen könnte.“ Aus dem Westen landet indessen immer mehr Post im Pfarrhaus. Die Kirchengemeinde bekommt viele Einladungen für die Kinder von Mölbis, ihre Ferien im Bayerischen Wald, im Schwarzwald oder an der Nordsee zu verbringen. „Manchmal kam ich mir schon vor wie in einem Reisebüro“, so der Pfarrer. „Aber die ehrlich gemeinte Solidarität ging mir ans Herz.“
1990 wird zum Schicksalsjahr von Mölbis. Das betrifft auch Dallmann. Als im Januar über die Zukunft des Dorfes entschieden werden soll, votieren noch mehr als 70 Prozent für den Abriss. Doch nach Schließung der Industrieanlagen werden Luft- und Bodenwerte sehr schnell deutlich besser. Das stimmt auch die Bewohner um: Im Spätsommer wollen fast alle ihren Ort erhalten. Die positive Entwicklung für die Umwelt hat aber ihren Preis. Mit der Abschaltung der Espenhainer Werksanlagen verlieren rund 6.000 Menschen auf einen Schlag ihre Arbeit. „Die Busse, die die Arbeiter abholten, trugen schwarze Binden. So konnte ich nicht anders und hing zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 ein Plakat ‚Hoffnung und Enttäuschung‘ am Pfarramt auf.“ Mit dem Aufbau Ost fließt Geld aus dem Westen in den Ort. Inzwischen zählt er wieder rund 700 Einwohner. Viele leben hier und arbeiten im nahen Leipzig. Es gibt eine Kneipe, eine Kita, eine Krippe und ein kleines Geschäft. Für Dallmann ist Mölbis inzwischen ein „ganz normales Dorf.“ Auch in seinem Ruhestand legt er nicht die Hände in den Schoß. Als Seelsorger ist er weiterhin viel unterwegs, besucht Menschen an Krankenbetten und leistet Beistand. Ebenso bringt er sich noch in der Gemeinde ein, wirkt an Pfarrfesten und kirchlichen Veranstaltungen mit. Manchmal holt er noch sein Keyboard hervor und spielt. 1994 hätte er sogar in Europa Politik mitgestalten können. Für das „Neue Forum“ wird er zur Europawahl auf einen Listenplatz gestellt, um nach Straßburg zu gehen. Doch er lehnt ab. „Als ich im Fernsehen sehe, wie wenig Abgeordnete dort oft im Parlament sitzen, wusste ich, ich bleibe, was ich bin: Pfarrer in Mölbis.“
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